Beinamputierter Roboter in der Halfpipe

Das 11. Internationale Trickfilmfestival in Stuttgart zeigte stolze 425 Filme in sechs Tagen. Darunter sogar Sand- und Kaffeepulveranimationen

Mittwochabend in der „Alten Reithalle“, der größten Spielstätte des Stuttgarter Trickfilmfestivals, kurz vor Beginn des letzten Wettbewerbprogramms. Gewöhnlich blättert man in solch einem Moment im Katalog – hier halten viele Besucher eine Klappstulle in der Hand. Das liegt zum einen daran, dass während des Festivals wenig Zeit für ausgiebige Mahlzeiten blieb: 425 Filme werden gezeigt, verteilt auf den Internationalen Wettbewerb, ein Studentenfilmprogramm, die Reihe „Tricks for Kids“ sowie die noch junge Konkurrenz der abendfüllenden Animationsfilme. Hinzu kommen das Panorama, Präsentationen verschiedener Filmhochschulen und diverse Spezialprogramme.

Das hohe Aufkommen belegter Brote im Publikum erklärt sich jedoch auch aus der Preisgestaltung der örtlichen Gastronomie. Im neu gestalteten Bosch-Areal schlägt ein Teller Spagetti mit 9,60 Euro zu Buche. Kein Wunder also, dass sich sowohl die Studenten der Filmakademie Ludwigsburg als auch die chronisch unterfinanzierten Filmemacher selbst versorgen – zum Ausklang der Abende wird unter den Tischen Dosenbier weitergereicht.

Wie zum Ausgleich für die kulinarische Einseitigkeit war auf der Leinwand die ganze Vielfalt der Animation zu sehen: Es gab Zeichen- und Legetrick und Computerbilder, Malerei auf Glas, Sand- und sogar Kaffeepulveranimation sowie Knettrick- bzw. Puppenfilme. Zu den größten Puppenanimatoren zählt Barry Purves, der für die erste Überraschung des Festivals sorgte: Wie zu erwarten war, sind die Figuren in „Hamilton Matress“ perfekt animiert und gefilmt – doch niemand hatte damit gerechnet, dass der britische Dramaliebhaber jemals Regie bei einer familienfreundlichen Erdferkel-Komödie führen würde. Purves hatte jedoch gar keine andere Wahl: Seitdem z. B. Channel 4 seinen Etat für Animation jenseits des Kinderprogramms strich, bleibt vielen Filmemachern nur noch übrig, mit der BBC zusammenzuarbeiten – und dieser Sender verlangt nach halbstündigen „Specials“ für seine Feiertagsprogramme. Er mag seinen neuen Film, sagt Purves, er habe gern an ihm gearbeitet. Aber ein Drehbuch wie einst zu „Screenplay“, seiner japanischen Trägodie, würde heutzutage rundweg abgelehnt. „Ich werde dann gefragt, ob ich nicht etwas Lustiges anbieten kann.“

Wenn auch kein echter Purves, so kann „Hamilton Matress“ trotzdem Maßstäbe setzen. Vergleicht man den Film zum Beispiel mit dem Beitrag des Förderpreisträgers vom letzten Stuttgarter Festival, wird deutlich, wie viel Handwerk ein guter Animationsfilm erfordert. Daniel Nocke erzählt in seinem 11-Minuten-Film „Der moderne Zyklop“ eine hübsch skurrile Geschichte: Eine Reisegruppe besucht eine Insel, auf der zivilisierte Zyklopen Felder bewirtschaften und Tanztheater aufführen. Die Annäherung an die zyklopische Kultur gestaltet sich schwierig, als ein Reisegruppenmitglied unbedingt den Programmpunkt „Blenden eines Zyklopen“ erleben will. Nockes Satire funktioniert – die Knetanimation jedoch noch nicht. Da wackeln Kleidungsstücke, die stillhalten müssten, da kommt umständliche Lippensynchronisation zum Einsatz, die kaum eine Silbe lang stimmt – und das hält den Zuschauer auf Distanz.

Noch schwerer, im Betrachter ein Gefühl für einen Trickfilmcharakter auszulösen, haben es Computeranimatoren, weshalb sich wohl auch nur wenige Filme aus dem Rechner für den Wettbewerb qualifizieren konnten. Von Experimentalfilmen abgesehen – der Kanadier Richard Reeves etwa brachte mit „1:1“ auf zweieinhalb Minuten ganz wunderbar Farben, Formen und Töne zusammen –, überzeugte allein Angela Jedeks Neufassung der Eingangssequenz von „Spiel mir das Lied vom Tod“. Strukturierte Elemente, die wie in einer Collage zusammengefügt sind, ersetzen hier die üblichen glatten und langweiligen Flächen in der Computeranimation, und Charles Bronson wirkt wie aus Pappmaschee gebaut.

Dies mag zwar nur eine Möglichkeit sein, computergenerierte Bilder aufregend zu gestalten, aber der richtige Weg – Realfilm zu imitieren kann schließlich nicht Aufgabe der Animation sein. In diesem Sinne entschied denn auch die Jury, die den Förderpreis für den besten Abschlussfilm einer Hochschule an den Russen Dmitri Geller für „Hello from Kislovodsk“ vergab, einen Regisseur, der den Computer als Werkzeug versteht. Die Auszeichnungen im Internationalen Wettbewerb gingen im doppelten Sinne an Klassiker: Jerzy Kucia aus Polen, eine Veteran der Trickszene, erhielt für seinen gezeichneten Experimentalfilm „Tuning Instruments“ den Preis des Landes Baden-Württemberg; den Preis der Stadt Stuttgart bekam der bisher immer wieder leer ausgegangene walisische Zeichentrickkünstler Phil Mulloy für seine sarkastische Science-Fiction-Parodie „The Invasion“.

Dem Publikum war’s recht. Man hätte andere Filme prämieren können, aber darum geht es nicht auf dem Festival. Wenn hin und wieder, egal mit welcher Technik, auf der Leinwand Trickfilmwirklichkeit entsteht, dann widerfährt dem Zuschauer etwas, worauf er gehofft hat und was in diesen Tagen einige Male möglich war: Dann möchte er den kleinen Tagträumer aus Paul Driessens Film „The boy who saw the iceberg“ aus dem Wasser retten und Jesse Schmals „SUB!“ gleich noch mal sehen. Wenigstens aber entfährt ihm, wie am vergangenen Montag meinem Sitznachbarn, ein anerkenndes „Hey!“, weil einem beinamputierten Roboter mit Einkaufswagenuntersatz eine elegante Drehung in der Halfpipe gelungen ist. CAROLA RÖNNEBURG