piwik no script img

Learning from Lagos

Wenn eine Stadt von 15 Millionen bald auf 24 Millionen EinwohnerInnen und somit zur drittgrößten Stadt der Welt anwächst: Die documenta-Konferenz „Plattform4“ befasste sich im Goethe-Institut Lagos mit afrikanischen „Städten unter Belagerung“

von JOCHEN BECKER

An der Rollbahn des Murtala Muhammed International Airport auf dem Weg zur documenta-Vorkonferenz stehen rostige Flugzeugwracks. „Städte unter Belagerung“ heißt die vierte und nach Wien, New Delhi und St. Lucia letzte Plattform vor der großen documenta-Ausstellung in Kassel. In Lagos, das von nunmehr wohl 15 Millionen bald schon auf 24 Millionen EinwohnerInnen und somit zur drittgrößten Stadt der Welt anwachsen soll, möchte der gebürtige Nigerianer und Leiter der Großausstellung, Okwui Enwezor, gemeinsam mit vornehmlich afrikanischen ForscherInnen die übliche Pathologie des Untergangs durchbrechen, die mit diesem Kontinent heillos verbunden scheint. Fünf Tage lang wurde im klimatisierten Goethe-Institut im Geschäftsviertel Victoria Island über Freetown, Kinshasa, Johannesburg oder Addis Abeba berichtet. Fliegt man über Afrika, so der Stadtforscher Abdoul Maliq Simone, dann sieht man dort lauter Städte, über die niemand zu sprechen scheint. Gleichzeitig geistert das Gespenst einer kolonial geprägten Stadtwahrnehmung über bekanntere Orte und lässt deren eigensinnigen zeitgenössischen Alltag unsichtbar werden. Um dieser Fehlwahrnehmung zu begegnen, wurde Codesria (Council for the Development of Social Science Research in Africa) gegründet, ein Netzwerk afrikanischer ForscherInnen mit wechselnden Tagungsorten.

Sheila Bunwaree, die Leiterin der Organisation, betont Afrika auf der zweiten Silbe, so als wolle sie einen besonderen Akzent setzen. Ihr Workshop war ursprünglich auf zwei Tage angesetzt, dann wurde aber ein Exkursionstag nötig, denn Codesria leidet selbst an starken Wahrnehmungsdifferenzen – wie bislang alle panafrikanischen Einrichtungen mit ihren Trennungslinien zwischen den kolonialen Sprachen Englisch und Französisch, zwischen Nord und Süd, Islam und säkularem Staat, Ausgewanderten und Dagebliebenen.

Große Potenziale

Wie sieht eine Neudefinition Afrikas aus, die nicht beschönigt? Als ein Teilnehmer der Konferenz erkrankte, verlangte der Hotelarzt vorab 400 Dollar. Früher musste man ins Krankenhaus von Lagos seine eigene Medizin mitbringen. Am Rande des Frühstücks erzählt ein euopäischer Vertreter für Medizintechnik von den „great potentials“, die er beim Besuch der örtlichen Hospitäler erkennen konnte. Ob denn seine Firma einen humanitären Preis mache, so wie Pharmaunternehmen Aidsmedikamente verbilligt abgeben? Diese Frage versteht er nicht.Der nationale Stromversorger Nepa heißt in üblicher Redeweise „Never Expect Power Always“. Jeden dritten Tag wird ein Stadtteil ganz ohne Strom gelassen, weshalb sich Reichtum auch nach der Wattzahl des Privatgenerators bemisst. Wasser wird in Kanistern angeliefert oder aus Flaschen getrunken, doch wegen Infektionsgefahr zur Sicherheit abgekocht. Im Hotel tragen die Angestellten beim Obstschneiden Gummihandschuhe. Der Kollaps der Infrastruktur – so seine These – ist zugleich ein Platz für Experimente und Imaginationen, ein Testfall sozialer Netzwerke. Während die so genannte zivilisierte Welt eine Liberalisierungspolitik zum Wohle global operierender Unternehmen forciert, existieren in „Drittweltländern“ vor allem Formen selbst organisierter, informeller Ökonomien, die dennoch dem Interesse der global operierenden Unternehmen entsprechen können. Wie der Vortrag von Jean Omasombo aus der Volksrepublik Kongo jedoch deutlich macht, funktioniert die kreative Kraft der Selbstorganisation nicht immer und überall, was er am drastischen Bild des Fahrradtaxis in Kisangani beschreibt. Hier würde der Gast selbst am Berg nicht absteigen, weil er doch vorab schon bezahlt habe. In Omasombos Schilderung wird deutlich, dass Notökonomie eine funktionierende Gemeinschaft und innere Solidarität braucht, um nicht zu scheitern. Über 80 Prozent Schattenwirtschaft sowie eine etwa ebenso hohe offizielle Arbeitslosenrate bedeuten selbst im leidlich überlebenden Nigeria eben auch, auf Steuereinnahmen und somit auch öffentliche Investitionen weitgehend verzichten zu müssen. Wer eigentlich zahlt diesem Staat noch Steuern, wenn selbst die Einnahmen aus der Erdölausbeute gleich dem Öl in den vergifteten Fördergebieten am Nigerdelta versickern? Wer glaubt an das Militär, das über Jahrzehnte eine Diktatur aufrechterhielt, oder an die Polizei, wenn diese aus Geldmangel am Abend ihre Maschinenpistolen an Wegelagerer verleiht, die dann die Brücken kontrollieren? Wer glaubt an den Schutz der Menschenrechte, wenn der Oppositionspolitiker Ken Saro-Wiwa vor sieben Jahren hingerichtet wurde? Ein steter Braindrain der Eliten sowie die Finanztransfers nach Übersee schwächen Nigeria überdies.

Abdoul Maliq Simone wunderte sich, wie die Vorträge in Konferenzen sich von dem unterschieden, was man an der Bar erzählte. Strukturanalyse und Alltagswidersprüche müssten zusammenkommen.

Plattform Bar-Beach

So besuchten wir eine andere Plattform, nämlich die von Sammys auf dem Bar-Beach, von dessen Holzdach aus der allseits übersteuerte Mix aus Missy Elliot und Oriental-Disko mit dem Wetterleuchten am Himmel zusammentraf. In einem handlichen Setzkasten aus Pappe sind vom Schokoriegel bis zur gerne auch einzeln verkauften Zigarette alle möglichen Kleinwaren on display. Der Verkäufer hält seine Taschenlampe darüber, um das Warenangebot zur Schau zu stellen. Hier sind Männer fast unter sich. Die Frauen bedienen oder warten als Sexarbeiterinnen am Strand auf Kundschaft. Auch im Hotel sitzen Computerstudentinnen zusammen, tratschen untereinander oder begleiten Geschäftsleute, wobei zwischen Sexjob und Ausgehen schwer zu unterscheiden ist. Vor vier Jahren hätten wir da sein sollen, meint der niederländische Stararchitekt Rem Koolhaas in lockerer Hotelrunde, da sei das Chaos in Lagos noch nicht aufgebraucht gewesen. Seither ist er mehrfach angereist und hat hier insgesamt zwei Monate verbracht. Wer einmal von seinem Terminkalender zwischen Guggenheim, Las Vegas, EuraLille oder Prada, New York vernommen hat, weiß, dass er wohl nicht einmal zu Hause so lange anzutreffen ist. Doch jetzt fände in der Megapolis „Gentrification“ statt, was er im Scherz sogar auf die Strömung am Meer überträgt, die doch ebenso wenig gefährlich sei wie die Stadt.

Auf Prada-Sohlen streift der scheue wie misstrauische Architekt zusammen mit seinem Mitarbeiter Edgar Cleijne durch die Märkte. Ein niederländisches Fernsehteam folgt ihnen. Koolhaas akkumuliert Berge von Notizen, digitalen Bildern, Videokassetten, Literatur. Was sagt ein Cover einer nigerianischen Zeitschrift über den Zeitgeist des postkolonialen Aufbruchs vor vierzig Jahren? Und welche Bewegungsmuster kann ich einer Luftaufnahme von informellen Märkten entnehmen, aufgenommen aus dem Helikopter des Staatspräsidenten? Koolhaas rühmt in seiner für den Herbst angekündigten Studie die effizienten und global orientierten Märkte, aber auch die afrikanische Weiterentwicklung einer von osteuropäischen Architekten geprägten Moderne, für die in den 70er-Jahren schiffsladungsweise Beton herangeschafft wurde. Dass die afrikanischen Mosaike im monumentalen Nationaltheater nur unter Protest der lokalen Künstler durchgesetzt wurden, wie ein Gast später anmerkt, unterschlägt der Vortrag. Widerstand und Konflikte scheinen abwesend in Koolhaas' evolutionärer Baugeschichte.

50.000-mal Amen

Jenseits der Stadt – und wo ist der Rand einer 15-Millionen-Stadt? – liegt Cannan-Land. Der ummauerte Campus fasst Tankstelle, Hotel und Universitätsgebäude, einen riesigen Parkplatz für Autos wie Shuttlebusse und mittendrin die dreiachsige Winners' Chapel. Wie bei einem Rockkonzert donnert uns das Amen der Gemeinde entgegen, bis man im Innern angekommen merkt, dass dies ganz ohne Verstärkung ging. Denn Afrikas zweitgrößtes Gotteshaus fasst über 50.000 Gläubige, die hier singen, beten oder ihr Fläschlein Palmöl hochhalten, auf dass es Heilung bringe. Mir wird mulmig beim Anblick von gläubiger Masse und diszipliniertem Führerkult. Bei der Anfahrt um eine Audienz gebeten, erschien Bishop David Oyedepo gleich nach der Messe in seinem Empfangssaal. Die Kapelle der Gewinner, die das alerte Oberhaupt nach dem Vorbild US-amerikanischer Fernsehprediger gründete, baut auf Erfolg. Und wo der Staat versagt, lehrt die Sekte Architektur und Städtebau, Human Science und Business: Gott ist mit den Aufstiegsorientierten. Bishop Oyedepos Kirche ist schon in dreißig Staaten Afrikas vertreten. Auch sonstwo bilden sich kleine Gemeinden als Ministaaten im Staat. Nigeria gilt als Religionsexporteur für den gesamten Kontinent, um so die Lücken der anderen Philosophien zu füllen, wie der Bischof formuliert. Selbst in der documenta-Stadt Kassel soll es eine von nigerianischen MigrantInnen gegründete Filiale geben.

Slow-go

Verkehr in Lagos heißt Slow-go. Sobald die Minibusse halten oder die Fahrbahn sich verengt, eilen fliegende HändlerInnen heran und produzieren weiteren, verkaufsfördernden Stau. Durch flexible Nutzung von insgesamt acht oder eng gepackt auch mal zehn Fahrbahnen regelt sich der Verkehr nur vorübergehend. Berufene Privatleute betätigen sich als Verkehrsregulierer. Die Polizei versucht, mit Schüssen in die Luft Verkehrsknoten aufzulösen. Ihre Maschinenpistolen tragen sie als Attribut ihrer Macht. Die hoch effizienten Kleinbusse transportieren in der Stadt, aber auch jenseits der Landesgrenzen von Punkt zu Punkt. Der Konferenzfahrer pendelt normalerweise zwischen Lagos und Benin und macht so täglich 600 Kilometer für umgerechnet 20 Euro Lohn. Überall stehen importierte Autos mit CH-Aufklebern und Spar-Werbung. Import, Reparieren, Handeln, Fahren, Kassieren oder Tanken schafft Arbeit und Einkünfte. Eine offene Pipeline an einer Brücke dient als illegale Tankstelle. Die Identifikation mit der Stadt ist eine sehr pragmatische: Make the money and run.Wie fühlt man sich als Lagocian, wenn man bis zu 50 Kilometer und Stunden im Slow-go voneinander getrennt lebt? Als wir mal wieder in einem Stau standen, ließen die Autos ihre Abgase wie Staubwolken oder Regenschauer hinter sich. Hier wird niemand alt. Und was macht man hier mit den kleinkriminellen area boys? Man ernennt sie zur Umweltwacht und lässt sie Unkraut jäten, Büsche stutzen und Randstreifen begrünen. So in städtischen Lohn gestellt, machen sie aus Lagos an manchen Stellen ein Gartenparadies, wozu auch die kurzfristig errichteten Palmenbaumschulen am Wegesrand beitragen. Kein Platz ist eine Piazza, doch die Straße ist ein Markt, und der Stand ein Heim. Noch die Eisenbahngeleise werden belegt und kurz freigegeben für den heranschleichenden Zug. Hier nimmt eigentlich niemand die Bahn.

Welcome to Nigeria

An den Mauern am Straßenrand lehnen prachtvoll verzierte Metalltore zum Verkauf. Besonders obskur wirken die wie gewerbliche Schilder aufgestellten Stacheldrahtrollen. Doch selbst in den mehrfach umzäunten und bewachten Enklavensiedlungen verkaufen HändlerInnen Dinge des täglichen Bedarfs. Die Permanenz des Markts, wo Menschen auch nächtigen, lässt die Unterscheidung von privat und öffentlich absurd erscheinen. Statt mit Verbrechen und Chaos empfängt einen die Stadt mit offenen Armen. Beim Flanieren durch die omnipräsenten Märkte heißt es wohlmeinend „Weißer, Weißer“, begleitet von Zischen, Winken und „Welcome to Nigeria“-Rufen. Der Gang durch die Innenstadt oder um Knotenpunkte des Verkehrs geraten stets zu einem großen „Hello“ mit Händeschütteln, Fragen nach Wohlbefinden und abschließendem Austausch von E-Mail-Adressen. Am Gateway zum Lufthansa-Rückflug in Lagos steht ein Mann in sommerlichem Hemd und Krawatte und kontrolliert die Papiere. Seit zwei Jahren prüft der Bundesgrenzschutz schon im Vorfeld, ob sich jemand informelle Papiere beschafft hat, die der BGS illegal nennt. Das Ganze noch einmal am Ausstieg zum Rollfeld Frankfurt Rhein-Main, diesmal von BeamtInnen in Uniform. Als ich nicht geprüft werde, frage ich, ob ich nicht schwarz genug sei. „Nicht rassistisch werden“, ist die verquere Antwort des Grenzschützers. Willkommen in Deutschland, Retour Deportation Class.

siehe auch: Archis is Africa, Heft 1/2002, 13, 75 €, www.archis.org

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen