: Wahlhand in siedendem Fett
Mehr als 1.000 Deutsche sind wegen Wählertrauma in therapeutischer Behandlung
„Schröder ist der Erste, der aufgeknüpft wird. Auch Fischer und Schily müssen nicht lange warten, bis sie baumeln. Ihnen folgen Trittin, Künast und Scharping. Der wehrt sich besonders heftig, als ich ihm die Schlinge um den Hals lege, doch all sein Zappeln und Zerren helfen nichts: Ein kräftiger Tritt, schon stürzt er ins Bodenlose. Noch während sein zuckender Leib auspendelt, kommt Eichel an die Reihe. Ein kurzer Ruck, dann hat auch ihm der Strick den Hals gebrochen. Der rosige Teint seines Milchgesichts wechselt schnell ins grünlich Blaue. Die Zunge quillt ihm aus dem Maul und hängt ihm bald als aufgedunsener Lappen bis fast zur Kinnlade runter. Ein schleimiger Speichelfaden seilt sich …“ Genug. Dr. Jutta Bunte schaltet das Diktaphon ab, aus dessen kleinem Lautsprecher gerade noch diese erschreckenden Exekutionsfantasien ihres Patienten Jörg* schnarrten. Eine „kathartische Halluzination“ nennt die 43-jährige Psychologin Jörgs exzessive Vision vom Ende der Bundesregierung. Sie habe ihn dazu ausdrücklich animiert, erklärt Frau Bunte ihre therapeutische Methode. „Nur so hat Jörg die reinigende, befreiende, eben kathartische Wirkung erfahren können, die er brauchte, um sich emotional von denen zu lösen, die er, wie er sagt, leider wählte.“ Laut Dr. Bunte befindet sich der Patient mittlerweile auf dem Weg der Besserung.
„Wahlschock“ oder „Wählertrauma“ wird das psychische Leiden bezeichnet, an dem Jörg vor zwei Jahren erkrankte. Dabei handelt es sich nach einer Studie der Berliner Petra-Kelly-Stiftung um „die pathologische Ausstülpung des in westlichen Demokratien und insbesondere in Deutschland weit verbreiteten Wählerfrustes“. Wahltraumata seien demnach „ernste seelische Deformationen, die meist bei emotional veranlagten Wählern auftreten, wenn deren Erwartungen, die sie in ‚ihre‘ Parteien oder Personen setzten, nach den Wahlen maßgeblich enttäuscht werden“, heißt es in der Studie weiter. Nach Angaben des Bundesgesundheitsamtes sind derzeit in Deutschland fast 1.000 Wahlschockpatienten registriert. Tendenz: steigend.
Björn* erlitt seinen extrem schweren Wahlschock ein Jahr nach der letzten Bundestagswahl. Seit jeher Grünen-Wähler, hatte sich der Atomkraftgegner von der grünen Regierungsbeteiligung eine radikale Kehrtwendung in der Atompolitik erhofft. Durch den Atomkonsens sah er diese Erwartung derart enttäuscht, dass er „seelisch regelrecht kollabierte“, so die Psychologin Bunte, die auch Björn behandelt. Björn erinnert nur noch dunkel, was damals passierte: „Als ich Trittin in Phoenix den Atomkonsens verkünden sah, habe ich spontan den Fernseher eingetreten, dann meine Wohnung verwüstet. Ab da herrschte in meinem Kopf absolute Leere.“ Leer ist seitdem auch die Stelle an Björns rechtem Unterarm, an der sich eigentlich eine Hand befinden müsste. Er hat sie sich im Wahlschock abgehackt. „Schließlich war es ja diese ‚verdammte‘ Hand, mit der er sein Wahlkreuz für die Grünen ausführte“, so muss laut Dr. Bunte diese grauenhafte Tat analysiert werden.
Ihr seien mindestens 30 Fälle von Selbstverstümmelungen bekannt, berichtet Frau Bunte, darunter auffallend viele Wähler der Grünen. Wie jener Friedensaktivist, der nach dem so genannten Afghanistan-Beschluss seine „Wahlhand“ im siedenden Fett einer Fritteuse regelrecht verglühen ließ. „Seit Ausbruch des Krieges ist die Zahl der Wahlgeschockten merklich angestiegen“, weiß die Psychologin. Allein in ihrer Bonner Praxis werden elf zum Teil extrem schwere Schockfälle behandelt. Eine vollständige Genesung, wie bei Patient Jörg möglicherweise zu erwarten, dürfte eher die Ausnahme bleiben. „Während Jörg schon wieder problemlos an einer Betriebsratswahl teilgenommen hat, kann Björn noch nicht mal einen Lottoschein ausfüllen, ohne einen Rückfall zu riskieren.“ – „Kreuzchenallergie“ nennen Fachleute dieses für Wahlgeschockte so typische Phänomen.
Eine Heilungschance für Björn allerdings gibt es: „Wenn er mal einen prominenten Grünen handgreiflich attackieren dürfte –das brächte ihm möglicherweise die Katharsis, die ihn aus seinem Schockzustand erlöste.“ Frau Bunte hat deshalb schon mehrfach beim grünen Bundesvorstand angefragt. Bis jetzt allerdings hat kein Grüner den Schneid aufgebracht, sich, so Björn, „von mir die Fresse polieren zu lassen“. FRITZ TIETZ
*Alle Namen von Betroffenen wurden von der Redaktion anonymsiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen