Schon in der Grundschule gewalttätig

Dokumentation. Das Deutsche Jugendinstitut konnte in Polizeiakten fremdenfeindliche Straftaten studieren: Die Täter werden häufig gewalttätig erzogen, sie leiden unter Schulversagen und werden in rechtsextremen Cliquen sozialisiert

Emotional auffälligen Kindern früher und individueller Aufmerksamkeit geben

Nach den Polizeidaten scheinen im Verlauf der 90er-Jahre keine grundsätzlichen Änderungen in der Struktur der Tatverdächtigen aufgetreten zu sein. Immer noch ist der größte Teil männlich, ledig und zwischen 15 und 24 Jahren alt. Zugenommen haben die Anteile der weiblichen Tatverdächtigen und in Westdeutschland derjenigen mit mittleren Schulabschlüssen. (…)

Die Gerichtsurteilsstudie zeigte ähnliche Ergebnisse. Bemerkenswert ist der große Anteil der Vorstrafen, den die Urteile aufzeigen. Hier deuten sich oft früh beginnende Entwicklungspfade von Aggressivität, allgemeiner Sozialauffälligkeit und Devianz, Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremistischer Ideologiebildung an. Die (wenigen) Urteile über junge Frauen zeigen, dass deren Gewalttaten an Brutalität kaum hinter der männlicher Täter zurückbleiben.

Die Täterstudie deckte auf, dass die individuelle Entwicklung bis zur eigentlichen Tat mehrphasig verläuft:

a) In vielfach zerbrochenen Familien mit kaltem, gewalttätigen Erziehungsklima und durch häufige Heimerfahrungen wird Gewalt als Hauptmittel zur Regulation alltäglicher Situationen erlebt und angeeignet. Auffällig sind die starken Emotionen der Trauer, Angst, Ohnmacht und Wut, die die Kinder erleben und in Aggressivität umsetzen. Ideologische Einstellungen werden noch kaum angenommen.

b) Die schulische Sozialisation zeichnet sich durch zunehmendes Leistungsversagen, Aggressivität, Schulabbruch und delinquentes Verhalten aus (fast neun von zehn Tätern fielen bereits in der Grundschulzeit durch Gewaltanwendung auf).

c) Im Jugendalter kommt der Gruppensozialisation in fremdenfeindlichen und rechtsextremen Cliquen eine sehr starke Bedeutung zu. Die meist schon seit der Kindheit vorhandene Aggressivität richtet sich jetzt nicht mehr nur gegen Mitschüler und Lehrer, sondern zunehmend gegen Fremde und andere Minderheiten (ethnisch Fremde, Punks, „Linke“ usw.). Die eigentlichen Gewalttaten passieren meist ungeplant, unter Alkoholeinfluss und im Gruppenkontext. Rechtsextreme Ideologen kommen in der an Gewalttätern interessierten Studie seltener vor, da sie weniger durch Gewalt auffällig werden wollen.

Was folgt aus den Ergebnissen für die Prävention? Emotional auffälligen Kindern (besonders zu Wutanfällen neigende, sehr ängstliche und traurige Kinder) müsste viel früher und individueller Aufmerksamkeit geschenkt werden. Präventive, individuell differenzierte und früh intervenierende Arbeit hierzu tut bereits bei Familien, im Kindergarten und in der Grundschule Not.

Die Schulen hätten die breiteste Möglichkeit, nicht nur auf die kognitive, sondern auch auf die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder einzuwirken – weil die Schule die einzige Einrichtung ist, die alle Kinder durchlaufen müssen, während freiwillige Angebote oft die Gefährdeten nicht erreichen.

Jugendhilfeangebote kommen oft zu spät. Sie müssten mehr attraktive Offerten für die Zeit der Pubertät schaffen – in dieser Phase schlossen sich die meisten Täter den fremdenfeindlichen Cliquen an, die sie offenbar interessanter fanden. Die Offerten der Jugendhilfe müssen deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen gelten, gefährdete Jugendliche beider Gruppen rüsten gerne zu gegenseitigen Kämpfen.

Politische Aufklärung und historische Bildung erreichen meist nur politisch interessierte und einigermaßen liberale Jugendliche. Die wirklich Gefährdeten werden durch solche Angebote kaum mehr angesprochen. Daher ist die Rede von den „politischen“ Gewalttaten oft missverständlich. Oft erscheinen die „rechten“ Motive wie nachgeschobene Rationalisierungen ganz anderer Probleme.

Die Möglichkeiten der Polizei … sind begrenzt. Aber sie kann Kindern und Jugendlichen … die von ihnen überschrittenen Grenzen zum Strafrecht deutlich machen.

Die Täterstudie bestätigte eine alte Einsicht der Kriminologie: Schärfere Strafen nützen wenig, bei den tatbegleitenden Affekten wird gar nicht mehr an mögliche Strafen gedacht. Es muss vorher Flagge gezeigt werden.

KLAUS WAHL, JUGENDINSTITUT