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Seit Georg Picht nichts gelernt

Die Pisa-Studie untermauert, was Picht schon in den 60ern beklagte: Die Dreigliedrigkeit von Hauptschule, Realschule und Gymnasium legt die Lernchancen von Kindern zu früh fest. Die Gesamtschule konnte nie zur Alternative früher Auslese werden

Deutsches Tabu: Die gegliederte Schule mit der Gesamtschule als Wurmfortsatz

von RICHARD KELBER

Georg Picht hatte es gut. Als er in den 60er-Jahren einen Bildungsnotstand ausrief, passierte was. Es setzte eine Debatte über die Reform von Bildung ein – das dreigliedrige Schulsystem kam auf den Prüfstand. Ein Ergebnis war der Gesamtschulversuch in Nordrhein-Westfalen 1969.

Der Eifer bei LehrerInnen war groß. Sie wollten mitwirken an etwas, das es bis dahin noch nicht gegeben hatte: Zwischen Versuchsschulen kooperativ Curricula zu entwickeln – also Lernformen, -inhalte und -ziele des Unterrichts zu einem neuen Lernen aufeinander zu beziehen. Es herrschte eine Aufbruchstimmung, wie es sie im bundesdeutschen Schulwesen noch nicht gegeben hatte.

Was alle Beteiligten als Kooperation verstanden, bekam allerdings recht bald einen Beinamen: „vertikale Kooperation“ – das sollte die „Zusammenarbeit“ zwischen Ministerium und Gesamtschule sein. Aus Beteiligung wurde Steuerung von oben. Was das hieß, machte ein einflussreicher Kultusbeamter deutlich, als er Schuldirektoren anraunzte: „Sie sollen exekutieren, nicht diskutieren.“

Nach und nach nahmen diejenigen, die in den Schulen die Arbeit mit dem Gesamtschulversuch hatten, „Abschied von den Reformillusionen“. Obwohl allen klar sein musste, dass der Erfolg vom Engagement der LehrerInnen abhängig sein würde, beschäftigte sich die Ministerialbürokratie vordringlich mit der Verhinderung einer, wie sie es nannte, „Massierung schulreformerischer Einseitigkeiten“. Das Ergebnis dieses Konflikts zwischen politischer Steuerung und pädagogischem Engagement könnte man mit den damaligen Worten eines Schülers auch so ausdrücken: „Ich habe gedacht, ich wäre an einer neuen Schule, in Wirklichkeit stinkt der alte Mist hier nur anders.“

Jürgen Girgensohn, NRWs Schulminister, fand das nicht falsch. Seine Beurteilung lautete, gewiss gut gemeint: „Die Gesamtschule wird sich als zum Abitur führende Schulstufe nicht mehr von den konventionellen Schulen unterscheiden.“ Der alte Mist, den die Gesamtschule überwinden sollte, war die schichtenspezifische Auslese, die die Schule selbst betrieb.

Die gegliederte Schule, die es in dieser Form in vielen Ländern Europas nicht gibt, verteilt die Kinder auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium – und legt damit ihre Lern- und Lebenschancen ganz offensichtlich zu früh fest. Die integrierte Gesamtschule sollte den Lernprozess öffnen und jenen eine Chance zum sozialen Aufstieg geben, denen dieser früher verbaut war.

Obwohl Gesamtschule besagt, es handele sich um eine Schule für alle Kinder, war von einer solchen Entwicklung in NRW nie die Rede. Das lag nicht nur an der Propaganda konservativer Kräfte. Eher am Fehlen der wichtigsten Voraussetzung: des Verständnisses für die Ursachen des Bildungsnotstands.

Statt in Perspektive die dreigliedrige Schule ganz abzulösen, war die Gesamtschule von Anfang an als viertes Glied des Schulwesens gedacht. Wie aber eine Gesamtschule ihre programmatischen Ziele erreichen soll, die lediglich neben den anderen Schulformen her betrieben wird, ist und bleibt ein Geheimnis. Der Hellweger Anzeiger formulierte 1973 das Dilemma hellsichtig: „Da es in Kamen keine Hauptschule mehr gibt, geht der Rest der Jungen und Mädchen zur Gesamtschule.“

Diese Definition der Gesamtschule aus einer negativen Abgrenzung zum Gymnasium ist ein Hinweis darauf, wie die Gesamtschule vor allem durch die Fortexistenz des Gymnasiums geprägt worden ist. Die Gesamtschule hat bis heute keine eigenständige Oberstufe, sondern wird ab dem elften Jahrgang zum Gymnasium. Dass sich dies auf den Unterricht und das Lernverhalten schon in der Mittelstufe auswirken musste und muss, ist nur mutwillig zu verkennen.

Karl Marx meinte, geschichtliche Ereignisse fänden häufig zweimal statt. Einmal als Tragödie und einmal als Farce. In diesem Sinne liegt die Tragödie bereits hinter uns. Georg Picht zum Hohn ist es nicht gelungen, ein Schulwesen zu entwickeln, das keinen Bildungsnotstand produzieren würde. Picht heißt heute Pisa und ist eine Studie der OECD, die vermuten lässt, dass sich in den vergangenen 30 Jahren nicht viel gebessert hat.

Die Farce liegt also offenbar noch vor uns. Sie besteht darin, das dreigliedrige Schulwesen mit der Gesamtschule als Wurmfortsatz zum Tabu zu erklären. Selbst mit Pisa scheint es derzeit unmöglich, das Tabu zu brechen. „Pi“ wird zur Schicksalsgröße des deutschen Schulwesens – für den Versuch der Quadratur des Kreises: frühe soziale Auslese zu praktizieren – und dabei soziale Chancengleichheit herzustellen.

Andreas Schleicher, Pisa-Koordinator der OECD, spottet über die „frühe Auslese der Deutschen in Hauptschule, Realschule und Gymnasium“. Prompt hat er sich dafür „bittere Vorwürfe“ von deutschen Kultusbürokraten eingehandelt. Gerade so, als ob diese drei Schulformen in der Pisa-Studie nicht ausgesprochen schlecht abgeschnitten hätten.

Selbst die Bildungsgutachter der Heinrich-Böll-Stiftung, von denen das zu erwarten wäre, haben nicht gewagt, die Gretchenfrage des deutschen Schulwesens zu stellen. Das brachte ihnen die berechtigte Kritik ein, sie drückten sich „um die Diskussion der Schulstruktur.“ Lothar Sack, Leiter der Berliner Fritz-Karsen-Schule, der ältesten bundesdeutschen Gesamtschule, weiß, warum. Er ist der Überzeugung, dass auch in der Gesamtschule deutscher Art die Auslesemechanismen bleiben. Die Gesamtschule sei vom „Bazillus der Selektion“ befallen und halte „die äußere Differenzierung wie einen Götzen hoch“.

Woran das liegt? Am Verständnis derer von Lernen, Bildung und Schule, die als „politisch Verantwortliche“ gelten. Oder richtiger: an deren mangelhaftem Verständnis des Lernens. Wie war noch die Reaktion von, zum Beispiel, Kanzler Schröder auf die Pisa-Studie? Er forderte flugs, SchülerInnen ganztägig zu betreuen. Worauf sehr richtig erwidert wurde: „Betreuung ist genau das Gegenteil von Fördern und Lernen.“ Die Verantwortlichen halten es nicht für nötig, sich in der Welt umzusehen. Also begreifen sie nicht, dass eine gegliederte Schule nicht nur eine der Chancenungleichheit, sondern auch eine der unterdrückten Lernpotenziale ist. Wir werden höchstwahrscheinlich auf absehbare Zeit kein Schulwesen bekommen, das auch nur in etwa konkurrieren kann mit dem der Länder, die bei Pisa-Studie weit besser abgeschnitten haben.

Vielleicht muss man viel weiter gehen, um die Dreieinhalbgliedrigkeit der Schule zu überwinden. Etwa mit einem Konzept von polytechnischer Erziehung – also einer Schule für alle mit allen Fächern, wie es sie etwa in Finnland oder anderen erfolgreichen Pisa-Staaten gibt. Unter dem Druck des Kalten Krieges hat man dieses Konzept einer Einheitsschule aufgegeben. Manchem mag das zu sehr nach DDR klingen. So viel aber scheint sicher: Eine Gesamtschule wird nur dann ihre Ziele erreichen, wenn sie wirklich eine Gesamtschule ist, also eine Schule für alle Kinder und Jugendlichen. Erst dann ist der „Kampf für eine demokratische Schule, die Schule für alle Kinder“, gewonnen.

Der Autor evaluierte in den 70ern den Gesamtschulversuch NRW. Der Text eröffnete die Ausstellung „30 Jahre Kampf um eine demokratische Schule“, die derzeit in der Gesamtschule Rheydt-Mülfort zu sehen ist

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