: Brasiliens Landlose als Wahlkampfhelfer
Mit der Besetzung der Präsidentenfarm durch Landlose macht die Regierung Cardoso Wahlkampf. Auch die Arbeiterpartei PT gerät unter Druck
PORTO ALEGRE taz ■ Wein trinkende, Zigarren rauchende und Forró tanzende Landlose sind kein alltäglicher Anblick in Brasilien. Die Bilder, die kürzlich in die Wohnzimmer der Nation flimmerten, versetzten das politische und publizistische Establishment in heilige Empörung. Denn die Angehörigen der Landlosenbewegung MST feierten so ihren knapp 24-stündigen Kurzbesuch auf dem Landgut von Präsident Fernando Henrique Cardoso.
Am Wochenende vor Ostern gelang ihnen unverhofft, was sie in den vergangenen Jahren wiederholt versucht hatten: die symbolträchtige Besetzung von Cardosos 1100-Hektar-Fazenda „Córrego da Ponte“ 200 Kilometer östlich von Brasília. Unbehelligt waren Hunderte von MSTlern in die Farm marschiert, um auf die stockenden Verhandlungen über Neuansiedlungen im Nordwesten des Bundesstaates Minas Gerais aufmerksam zu machen. Der Minister für ländliche Entwicklung Raul Jungmann, Exkommunist und heute einer der treuesten Cardoso-Gefolgsleute, bezichtigte die MST des „Terrorismus“. Rund 500 Polizisten und Soldaten wurden in Bewegung gesetzt,ein Flugzeug der Luftwaffe donnerte über das Gelände.
Bei den nächtlichen Verhandlungen versprachen Jungmanns Emissäre den Landlosen freien Abzug. Doch in Brasília waren die Weichen bereits auf Konfrontation gestellt worden. Angeblich um gemeinsam eine „Inventur“ der Farm zu machen, baten die Polizisten die Sprecher der Besetzer, sie sollten ein wenig länger bleiben. Dann nahmen sie die solchermaßen zu „Rädelsführern“ gekürten 16 MST-Mitglieder fest, legten ihnen Handschellen an und zwangen sie, sich auf den Boden zu legen. Die düpierten Regierungsfunktionäre kündigten darauf hin ihren Rücktritt an.
Und weil gerade Wahlkampf ist, reicherten Parteifreunde des Präsidenten das schrille Mediengetöse gegen die MST mit einem weiteren Element an. Die MST fungiere als „Transmissionsriemen“ der oppositionellen Arbeiterpartei PT, die sich somit „gegen die demokratische Ordnung“ stelle, polemisierte Justizminister Aloysio Nunes Ferreira.
Doch im Vorfeld war offenbar selbst die nationale Leitung der MST nicht informiert. Kurz darauf räumte sie ungewöhnlich kleinlaut ein, die Aktion sei „vielleicht überstürzt“ gewesen.
Für PT-Kandidat Lula haben die Besetzer der „Landreform keinen guten Dienst erwiesen“, jenem Projekt, das die Regierung bei jeder Gelegenheit zur Erfolgsgeschichte aufbläst. In sieben Jahren seien fast 600.000 Familien angesiedelt worden, behauptet etwa Raul Jungmann. Für Kritiker aus dem MST-Umfeld waren es nicht einmal halb so viele, zudem hätten im gleichen Zeitraum noch mehr Kleinbauern ihren Grund und Boden aufgeben müssen.
Andere PT-Politiker gingen deutlicher auf Distanz: „Wir solidarisieren uns nicht bei der Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Privathäusern oder produktiven Landgütern,“ sagte José Genoino, der Gouverneur von São Paulo werden möchte. Die Besetzung der Präsidentenfarm sei „verantwortungslos“.
„Die Regierung hat diese Episode sehr geschickt genutzt, um von den Problemen ihres Kandidaten José Serra abzulenken,“ meinte MST-Koordinator João Pedro Stedile gegenüber der taz. Im Hinblick auf die Wahl scheint die Strategie Cardosos klar: Kriminalisierung der MST bei gleichzeitigen Versuch, die gemäßigte PT-Parteispitze um Lula gegen Gewerkschaften und soziale Bewegungen auszuspielen.
Mit wenigen Ausnahmen weiß er die Medien hinter sich. Nicht die rund fünf Millionen Landlosenfamilien Brasiliens sind von diesem Standpunkt aus ein Skandal, sondern Wein trinkende und Zigarren rauchende MST-Mitglieder. GERHARD DILGER
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