Die Lehrerin der Außenseiter

Seit einem Vierteljahrhundert halten die alten Freunde von Jeanne Mammen die Erinnerung an eine Künstlerin wach, die nie in die Zeit passte. Das Atelier in einem Hinterhaus am Kurfürstendamm ist eine Kostbarkeit unter den privaten Museen Berlins

„Das Atelier ist die Wiege meines Kunstverständnisses“

von WALTRAUD SCHWAB

Zwischen Sehen und Nicht-gesehen-Werden, zwischen Wahrnehmen und Nicht-wahrgenommen-Werden, zwischen Erkennen und Nicht-erkannt-Werden spielte sich das Leben der Jeanne Mammen ab. Wer die Tür zu ihrem Atelier im vierten Stock des Hinterhauses am Kurfürstendamm 29 öffnet, begreift, dass Leidenschaft an keine Form gebunden ist.

Mammen war eine Künstlerin des 20. Jahrhunderts, die nie ganz in die Zeit passte, und wenn sie ankam, war es meist schon zu spät. Die Geschichte oder der Zufall, manchmal auch der Lauf der Dinge, kamen ihr in die Quere. Kriege beispielsweise. Da kommt eine alleine nicht gegen an. Emigrationen – äußere und innere – auch. Dazu noch Eigenwilligkeit. Denn von allen Möglichkeiten, die zu bedenken sind, gilt auch jene, dass Mammen sich gar nicht ums Ankommen scherte. Eine Haltung, die sie sich vom Leben hat beibringen lassen.

Für eine, die sich nicht anpassen konnte, weder familiär noch politisch, die den künstlerischen Mainstream als Experimentierplattform und nicht als Nonplusultra begriff, und dennoch bei sich bleiben wollte, brauchte als soziales Rückgrat zumindest die Freunde. Künstler, Wissenschaftler, Literaten sind darunter. Sie waren Mammen wichtig. Dafür revanchierten diese sich später. Nach ihrem Tod gründeten sie eine Jeanne-Mammen-Gesellschaft und sorgen seither dafür, dass das Atelier, in dem die Malerin ein halbes Jahrhundert gelebt und gearbeitet hat, erhalten bleibt. Der Schriftsteller Lothar Klünner gehört zu diesen Treuen. Zu seinen 80. Geburtstag gibt ihm sein Verlag heute ein Fest.

Mammens Atelier legt Zeugnis ab nicht nur für eine Frau, sondern auch für eine Künstlerbiografie des letzten Jahrhunderts. Es ersetzt, was andere in Briefen, Dokumenten, Selbstzeugnissen hinterlassen haben. Von Jeanne Mammen nämlich gibt es kaum Fixiertes, wohl aber die Erinnerungen ihrer noch lebenden Freunde. Weil diese aber den subjektiven Standpunkt nicht leugnen, ist das, was sie über die Künstlerin sagen, immer nur für den Augenblick gültig.

Die 1890 in Berlin geborene Malerin wuchs in Paris auf und starb 1976 in Berlin. Die Arbeiten, die die Sammler am meisten begehrten, weisen sie als weibliches Pendant zu Künstlern wie Otto Dix und George Grosz aus. Auf ihren Milieustudien aus dem Berlin der zwanziger Jahren stehen meist die Frauen im Zentrum. Blasiert, mit Bubikopf und geschminkten Lippen, lasziv und selbstvergessen stolpern die jungen Möchtegerndamen in die Moderne.

Bilder aus der Goldenen-Zwanziger-Jahre-Zeit sind keine im Atelier zu sehen. Für sie gab es Käufer. Stattdessen hängen an den Wänden Werke der Künstlerin aus all ihren anderen Perioden. Dazu die Skulpturen, der Schnickschnack, das Bescheidene und Exzentrische einer Frau, die hier während des Krieges abgeschnitten von den internationalen Kunstentwicklungen und ihren emigrierten Freunden, darunter der Nobelpreisträger Max Delbrück, weiter heimlich experimentierte. Um aber Geld zu verdienen, zog sie zeitweise mit einem Bücherwagen über den Kurfürstendamm.

Mammen ging ihren künstlerischen Weg vom Symbolismus über die Neue Sachlichkeit bis hin zur Abstraktion. Von Picasso beeinflusst durchlief sie eine kubistische Phase. Mangel an Kunstmaterialien nach dem Krieg machte sie zur Collagistin. Sie baute Draht und Schnur aus Care-Paketen und später Glanzpapier von Bonbons in ihre Arbeiten ein. Von Jackson Pollock inspiriert, experimentierte sie mit Farbe, die auf Leinwände getropft wird.

Für Lothar Klünner, der nach dem Krieg mehr als 25 Jahre lang fast jeden Donnerstagabend hier verbrachte, ist das Atelier so etwas wie Heimat, wie die „Wiege meines Kunstverständnisses“. Er und sein Freund Johannes Hübner kamen zu Mammen, um mit ihr bei Rotwein über französische Literatur zu diskutieren. Die beiden, die zur ideengeschichtlich verwaisten jungen Kriegsgeneration gehörten, suchten Zuflucht beim literarischen Surrealismus der Franzosen. Sie begannen Apollinaire und René Char zu übersetzen und schrieben selbst Gedichte im Duktus ihrer großen Vorbilder. Die 30 Jahre ältere Mammen wurde ihnen zur Mentorin, denn im Französischen und der Literatur jener Zeit kannte sie sich aus.

Eines teilt Klünner mit seiner Lehrmeisterin: Als Schriftsteller ist er Außenseiter geblieben. Seine Lyrik, die dem Unbewussten huldigt, Logik und bewusstes Kalkül ablehnt und in der das Ich gern auf verlorenem Posten steht, bietet viel kryptischen Expressivität. Verständnis wird mit einer fantastischen Metaphernfülle zugedeckt. Das gibt den Gedichten die Schönheit des Augenblicks. Zeitlos aber ist nur die Idee, dass der Moment zeitlos sein kann.

Konkret wird Klünner, der vor und nach dem Krieg Theologie studierte und während des Krieges Kontakte zur Familie Niemöller hatte, wenn er als Schatzmeister der Gesellschaft dafür sorgt, dass die echte Außenseiterin Mammen nicht in Vergessenheit gerät. Damit stellt er, der sich gegen die Theologie entschied und der gerne bekennt, dass er in der Liebe lange nicht treu sein konnte, die andere Seite seiner Fähigkeit zur Beständigkeit unter Beweis. Dass Mammen die größere Künstlerin war, dass ihr Außenseitertum echt war, weiß Klünner. Dass sie für ihn den Reiz des Abwegigen verkörperte ebenso.

Von Mammen wurde gesagt, sie sei jemand, der „gegen jede falsche Autorität war“. Sie beschäftigte sich mit kommunistischen Ideen, ohne sich ihnen zu ergeben, sie malte, wie es ihr passte, sie blieb frei auch gegen die Zeit, sie verkehrte in homoerotischen Clubs. „Sie hatte viel übrig für Frauen, aber sie hat das nicht gelebt“, widerspricht Klünner, der von Feministinnen aufrecht erhaltenen Behauptung, Mammen sei lesbisch gewesen. Mammen war „im Sexuellen trocken bis dorthinaus“, sagt er. Stattdessen aber hatte sie „den pädagogischen Eros“. Das hat ihn fasziniert.

Bis heute strahlt das Atelier die Kraft und Kompromisslosigkeit seiner ehemaligen Bewohnerin aus. Es ist eine Kostbarkeit unter den privaten Museen der Stadt, weil Kunst und gelebtes Leben sich an diesem Ort verbinden. Es ist konkret, authentisch und echt. Den alten Weggefährten – und Klünner ist einer der letzten von ihnen – ist zu verdanken, dass sie Mammen, die sich am liebsten versteckt hat, dadurch ein Gesicht, eine Identität gegeben haben. Mammen selbst wird es recht sein, denn so wird vielleicht wahr, was sie immer wollte: Unsichtbar sein. „Eigentlich habe ich mir immer gewünscht, nur ein paar Augen zu sein. Ungesehen sein. Nur die anderen sehen.“