berliner szenen Berliner Entspannungen

F., ein Vorbild

Nach dem Aufstehen gurgelt F. fünf Minuten mit reinem Sonnenblumenöl. Er wendet damit ein altes Rezept sibirischer Tundravölker an. Das Öl bindet die in der Mundhöhle abgelagerten Schwermetalle. Der Tag setzt sich fort mit einigen vietnamesischen Tai-Chi-Übungen, bevor F. die CD „Quantum Lights“ in seinen Player legt und eine Stunde lang atmet. Er befolgt dabei die Regeln eines Kaliforniers indischer Herkunft. Das heftige Ein- und Ausstoßen der Luft zum Klang afrikanischer Buschtrommeln befördere eine Art natürliche Drogenerfahrung, erklärt F.

Es ist ihm zur Gewohnheit geworden, dass er als Konsequenz dieses kleinen Rausches seine Gedankenströme auf drei Seiten Papier niederschreibt, eine Empfehlung, die er vor Jahren in einem US-amerikanischen Ratgeber zur Kreativitätssteigerung gelesen hat. Mit einer halben Stunde Joggen lockert F. anschließend seine Muskulatur. Das ist nötig, denn sein Körper muss vorbereitet sein auf die sechzig Minuten Training in schweißtreibenden asiatische Kampftechniken, die jetzt beginnen.

Vo Dao und Karate beendet er jeweils mit einem befreienden Urschrei. „Man lässt dann einfach los“, meint F. Als nebenberuflicher Musiker empfindet er es als schöne Pflicht, danach noch einige komplizierte Griffe auf der Gitarre zu üben. Erst dann geht er duschen. Das morgendliche Programm dauert insgesamt knapp fünf Stunden. Seine Tätigkeit als gut bezahlter Softwareentwickler in der Strategieabteilung eines großen deutschen Unternehmens tritt F. erst gegen Mittag an. Damit erscheint er sehr viel später zur Arbeit als seine Kollegen. F. rechtfertigt das Zuspätkommen mit seinem wunderbaren Entspannungszustand, den er täglich aufs Neue in die Firma trägt. KIRSTEN KÜPPERS