Sorgenvoller Haupstadt-Sommer

Dem Namen nach hört sich „Das kleine Fernsehspiel“ zwar nach altbackener TV-Frühzeit an. Tatsächlich steckt dahinter die Avantgarde des ZDF. Zum Beweis läuft heute „Mein langsames Leben“ als Auftakt der Reihe „Berlin, Echtzeit“ (23.55 Uhr, ZDF)

von CHRISTIAN BUSS

Der Sommer treibt die Sorgen auf die Straße. Eine junge Frau sitzt auf einer Parkbank und klagt einem Pärchen ihre Nöte. Ihre Schwester und deren afrikanischer Mann hätten sich in ihrer Wohnung eingenistet, jetzt fühle sie sich dort nicht mehr wohl. Es dauert ein bisschen, bis die junge Frau das sagt, denn sie weiß ja, dass sich so was nicht gehört. Das schlechte Gewissen meldet sich prompt: „Das Problem ist, dass ich erkenne, wie ich bin und so nicht sein möchte. Ich will lieber lustig sein!“ Dann weint die junge Frau und lässt ihre Zuhörer ratlos auf der Parkband zurück.

Gespräche verlaufen zuweilen teuflisch. Alles, was man sagt, um sich ins rechte Licht zu rücken, kann sich plötzlich gegen einen wenden. Wortgerüste fallen in sich zusammen, und in den verbalen Trümmern kommt auf einmal die wahre Identität zum Vorschein. Oder es schimmert zwischen den kalkulierten Ausführungen ganz unverhofft ein verräterischer Subtext durch. Es macht also Sinn, dass Regisseurin Angela Schanelec die Kamera ungnädig auf ihren verwirrten Helden verweilen lässt. Wo andere Filmemacher eine Szene für beendet erklären, fängt bei ihr das Leben an.

„Mein langsames Leben“ ist ein Generationsporträt, das ohne die im Genre verbreitete Thesenfreudigkeit daherkommt. Denn auf einen Nenner lassen sich all die Thirtysomethings, die durchs sommerliche Berlin streifen, nicht bringen. Man könnte hoffen, dass der Film vom Ankommen handelt. Doch vom Einstieg in ein arriviertes Dasein ist nichts zu spüren. Die viel beschworene „neue Mitte“ kommt hier nicht vor. Es wird keine der Erfolgsbiografien aus der rundum erneuerten Hauptstadt abgespult. Statt auf Beschleunigung wird auf Verlangsamung gesetzt; anstelle pauschaler Einschätzungen gibt es präzise Einzelschicksale. Passenderweise steht in einer Hochzeitsszene die Band Mutter auf der Bühne, die früher einmal gesungen hat: „Du bist nicht mein Bruder“.

So was wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl sucht man in „Mein langsames Leben“ also vergeblich. Stattdessen sieht man dabei zu, wie ein Dutzend Mittdreißiger auf Flughäfen oder Dachterassen rumsteht und über „Dick und Doof“ debattiert oder über den Sinn von Ferien. Um mitzubekommen, dass es auch ums Sterben und ums Betrügen geht, muss man genau hinhören. Die Beiläufigkeit, mit der Ungeheuerlichkeiten formuliert werden, ist das Resultat einer ausgeklügelten Inszenierungstechnik. Wie bei Eric Rohmer, dem ewig jungen Großmeister des Dialogfilms, gehen geometrische Strenge und Naturalismus Hand in Hand. Die Vertikalen von Bänken und Bahnsteigen, die Horizontalen von Fenstern und Schiebetüren – hier legen sie sich wie Bilderrahmen um die Menschen. So wird die Wahrnehmung des Zuschauers gelenkt, auf dass er die emotionale Gemengelage besser ins Visier nehmen kann.

Auf Verkürzungen oder Verdichtungen, auf Suspense oder schmeichelnde Musik wird in „Mein langsames Leben“ verzichtet. Trotzdem entwickelt der Film einen unglaublichen Sog. Man könnte sich keinen schöneren Eröffnungsbeitrag für die ZDF-Reihe „Berlin Echtzeit“ wünschen. Die Verantwortlichen des „Kleinen Fernsehspiels“ präsentieren eine Auswahl neuer und alter Arbeiten, die ein unverfälschtes Berlin zeigen – und belegen damit ihre Risikobereitschaft. Hit und Niete liegen hier dicht beieinander. Insgesamt hat die Redaktion über all die Jahre ja eine gute Nase bewiesen. Immerhin förderten sie instinktsicher Oskar Roehler, der vor seinem vom ZDF koproduzierten Geniestreich „Die Unberührbare“ nur eitlen Humbug verzapft hat. Es muss wohl einen gewissen Freiraum geben, in dem sich Regie-Nachwuchs ausprobieren darf.

Auf den faden Formalismus, dem Thomas Arslan in seinen Filmen huldigt, würden man trotzdem gerne verzichten. In „Der schöne Tag“, dem zweiten Beitrag (15. 4., 0.25 Uhr), erzählt der Regisseur von einer jungen Schauspielerin, die sich vom Freund trennt und durch Berlin streunt. Zwischendurch synchronisiert sie einen Film von – oha! – Eric Rohmer. Doch weder die Spiegelungen durch die Rohmer-Figuren noch die Ausführlichkeit der Beschreibung bringt einen der verzagten Heldin näher. Arslan ist nicht akkurat, er ist ausschweifend. Nicht alles, was sich in Echtzeit abspielt, handelt vom echten Leben. Da sollte man seine Aufmerksamkeit lieber auf die TV-Klassiker lenken, die ebenfalls mit ZDF-Unterstützung entstanden sind: In „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ (29. 4., 0.05 Uhr) erzählte Helke Sander 1977 von einer Fotografin, die sich samt Tochter mit schlecht bezahlten Jobs über die Runden bringt. Ökonomie und Geschlechterverhältnisse werden hier vor der Kulisse einer gestochen scharf abgefilmten Mauerstadt verhandelt. Polemisch, streckenweise enorm präzise. In Michael Kliers Wende-Drama „Ostkreuz“ (22. 4., 0.45 Uhr), in dem Laura Tonke 1991 ihr grandioses Debüt gab, geht es ebenfalls um Mutter und Tochter. Die kleine Familieneinheit aus dem Osten wartet in einer Containersiedlung darauf, dass sich die Verheißungen des Westens einstellen. Natürlich vergeblich. So oder so: Berlin in Echtzeit lädt selten zur Euphorie ein.