: Die Mühlen der Justiz knirschen
von DOMINIC JOHNSON
Es sollte der wichtigste Prozess des Ruanda-Tribunals der UNO in den sieben Jahren seines Bestehens werden. UN-Chefanklägerin Carla Del Ponte persönlich war dabei, als am vergangenen Dienstag das Gruppenverfahren gegen vier hochrangige ehemalige ruandische Militärs eröffnet wurde. Prominentester unter ihnen ist der faktische Militärmachthaber während des Genozids von 1994, Theoneste Bagosora. Doch die Angeklagten blieben allesamt einfach in ihren Zellen sitzen, und nach der Verlesung der Anklage wurde das Verfahren vertagt – auf den 2. September.
Die Farce acht Jahre nach dem Beginn der systematischen Ermordung von über 800.000 Menschen in Ruanda, zumeist Tutsi, erscheint symptomatisch für den Zustand des „International Criminal Tribunal for Rwanda“ (ICTR), neben dem Den Haager Jugoslawien-Tribunal das einzige ständige internationale Kriegsverbrechertribunal der Welt. Es hat seit 1994 ganze neun Urteile gefällt, eines davon ein Freispruch. 56 Menschen sitzen in den Zellen des ICTR im tansanischen Arusha. Der teuerste Gerichtshof Afrikas gab im Jahr 2000 über 83 Millionen Dollar aus. Ruandas eigene Justiz, die viel weniger Geld hat und noch immer 111.000 Völkermordverdächtige in Untersuchungshaft hält, konnte zwischen dem Beginn ihrer Völkermordprozesse Ende 1996 und Ende 2001 immerhin 6.454 Angeklagte aburteilen. Davon wurden 2.566 freigesprochen und 660 zum Tode verurteilt. Eine nicht geringe Anzahl der Todesurteile wurde auch vollstreckt.
Der Präsident des ICTR, der Südafrikaner Navanethem Pillay, rechnete in seinem letzten Jahresbericht vor, die Prozesse gegen die damals noch 51 Untersuchungshäftlinge würden im Jahr 2007 enden; die beabsichtigten Verfahren gegen weitere 136 Personen dürften bei diesem Tempo bis 2023 dauern. „Dies ist inakzeptabel“, so Pillay. Und die Probleme häufen sich. Streit über die Zulässigkeit bestimmter Zeugen legen Verfahren manchmal über Wochen lahm. Letztes Jahr stand eine Ruanderin zwei Wochen lang Rede und Antwort über ihre Massenvergewaltigung durch Milizionäre während des Genozids. Die 27-Jährige berichtete, wie insgesamt sechzehn Männer sie und andere Frauen im Mai 1994 mehrfach missbrauchten und Tutsi-Flüchtlinge mit der Machete zerstückelten.
Einmal wurde sie bei der Aussage ohnmächtig. Die Anwälte des Angeklagten nahmen die Zeugin ausführlich ins Kreuzverhör über die Frage, wie die Milizionäre ihr denn genau die Kleidung vom Leib gerissen hätten – und die Richter hörten kichernd zu. Das Bekanntwerden dieses Vorfalls führte im Januar dazu, dass Ruandas Verband von Völkermordüberlebenden, „Ibuka“, seine Zusammenarbeit mit dem ICTR aufkündigte und seine Mitglieder dazu aufrief, keine Aussagen mehr vor dem UN-Tribunal zu machen.
Seitdem ist die Arbeit des Tribunals in Ruanda so gut wie blockiert. „Ibuka“ behauptete ferner, beim Tribunal arbeiteten insgesamt 41 Völkermordbeteiligte, vor allem in den Mitarbeiterstäben der Verteidiger. Bereits letztes Jahr wurden zwei Ermittler der Verteidigung selbst angeklagt und verhaftet. Immer wieder kommen Vorwürfe auf, Zeugen würden unter Druck gesetzt – auf Geheiß der Angeklagten.
Um dies zu vermeiden, übermittelt die Anklage den Verteidigerteams vor Beginn eines Verfahrens nur teilgeschwärzte Ermittlungsergebnisse, in denen die Identität von Zeugen nicht preisgegeben wird. Dies war der Grund, warum die vier Angeklagten letzte Woche ihre Prozesseröffnung boykottierten.
Der Umstand, dass die für den Völkermord verantwortlichen Kräfte noch immer viel Macht haben, trägt direkt zur Verzögerung der UN-Prozesse bei. Das Problem ist nicht auf Ruanda beschränkt. Große Teile der für den Völkermord verantwortlichen Armee und Milizen flohen nach ihrer Niederlage gegen die Tutsi-Guerillabewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) nach Zaire, heute Demokratische Republik Kongo, und kämpfen zum Teil bis heute gegen Ruandas RPF-Armee, die zur Verfolgung der Milizen ein Drittel des Kongo besetzt hält. Kongos Präsident Joseph Kabila hält noch immer mehrere tausend ruandische Hutu-Milizionäre in seiner Armee. Das Gleiche gilt für Denis Sassou-Nguesso, Präsident des benachbarten Kongo-Brazzaville. Das belastet jeden Versuch, den Genozid juristisch aufzuarbeiten.
Mitte Februar reiste der Registrar des ICTR, Adana Dieng, in die beiden Länder und forderte die Präsidenten zur Auslieferung gesuchter Völkermordverdächtiger auf. Er erhielt Versprechungen, denen bisher keine Taten gefolgt sind. Das verwundert nicht: Der Leiter der Regierungsdelegation des Kongo bei den laufenden Friedensgesprächen in Südafrika, Vital Kamerhe, ist ein Cousin des ruandischen Exbrigadegenerals Gratien Kabiligi, einer der vier Angeklagten beim jetzt begonnenen Militärgruppen-Prozess in Arusha. Und einer der Anwälte des in einem anderen Gruppenverfahren angeklagten ehemaligen ruandischen Transportministers André Ntagerura ist der in Frankreich lebende Kongolese Hamuli Rety, im Nebenberuf Leiter des politischen Flügels einer Gruppe ostkongolesischer Milizen, die sich den Kampf gegen jede Friedensvereinbarung in der Region auf die Fahnen geschrieben hat.
Nur wenn Kongos Regierung ihre ruandischen Hutu-Verbündeten nach Ruanda zurückschicken würde, könnte auch Ruanda dazu gebracht werden, seine Truppen aus dem Kongo zurückzuziehen. So könnte gleichzeitig im Kongo Frieden einkehren und Ruanda wäre gezwungen, die Bewältigung des Völkermords im eigenen Land zu vollenden.
Die Vorbereitungen dazu sind längst im Gange. Demnächst, vermutlich im Herbst, sollen in Ruanda die ersten Gacaca-Prozesse anlaufen – öffentliche Dorftribunale, auf denen Laienrichter Völkermordangeklagte den Bewohnern ihrer Heimatgemeinde vorführen und zusammen mit diesen ihre Schuld oder Unschuld feststellen. Diese gewählten Dorfrichter sind zunächst für die einfachen Kategorien der Fälle zuständig –Anklagen wegen Zerstörung von Gütern. Unter sich wählen sie dann Richter für höhere Gacaca-Gericht aus, vor denen schwerere Fälle gehört werden. Das Strafmaß kann dann bis „lebenslänglich“ reichen. Von der Todesstrafe bedrohte Angeklagte dürfen vor diesen Gerichten nicht angeklagt werden.
Das Gacaca-Verfahren genügt zwar nicht strengen rechtsstaatlichen Kriterien, gilt aber als einziger Weg, den Untersuchungshäftlingen überhaupt noch zu Lebzeiten eine Anhörung zu garantieren und zugleich auf Dorfebene das noch immer lähmende Schweigen über 1994 zu brechen. Parallel dazu entstehen neue politische Institutionen: Gewählte Kommunalverwaltungen sind seit kurzem im Amt, und 2003 sind Präsidentschaftswahlen geplant. Eine Demokratisierung ist das nicht, denn das Mitspracherecht der Bevölkerung geht nur so weit, wie es den Machtanspruch der RPF unter Präsident Paul Kagame nicht gefährdet. Aber es ist zumindest eine Verrechtlichung politischer Verhältnisse, die einen späteren Pluralismus möglich macht.
Vom Erfolg dieser Entwicklungen im Kongo und in Ruanda hängt die geplante Effektivierung der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs ab. Bereits im Juli 2001 schlug die UNO vor, im Ausland – zum Beispiel den Niederlanden – einen Pool von 18 Richtern für die Teilzeitarbeit beim Tribunal zu gewinnen. Dann, so sieht das Gerichtspräsident Pillay, könnten die Verfahren im Jahr 2011 zu Ende sein. Doch UN-Chefanklägerin Carla Del Ponte geht das nicht weit genug. Sie und auch die USA wollen neuerdings die Arbeit des ICTR – und auch die des Jugoslawien-Tribunals – bereits 2007 oder 2008 enden lassen. Fürs Ruanda-Tribunal plant Del Ponte die vorgesehenen Neuanklagen von 136 auf 111 zu reduzieren und die Ermittlungsarbeiten bis 2003 abzuschließen. Ein Teil der Arbeit des ICTR soll nach Ruanda verlagert werden. Ein Gerichtsgebäude wird in der ruandischen Hauptstadt Kigali bereits gebaut.
Bisher war es Grundsatz der UN-Tribunale, dass ihre Arbeit sich nicht mit der nationaler Gerichtsbarkeiten vermischt. Davon nimmt die UNO nun Abstand. Das ICTR würde auf den Status eines nationalen Kriegsverbrechertribunals mit internationaler Unterstützung heruntergestuft. Es wird dann parallel zu den Gacaca-Prozessen auf lokaler Ebene arbeiten – und zum Internationalen Strafgerichtshof, dessen Einsetzung mit der für den 11. April geplanten Hinterlegung der 60. Ratifizierungsurkunde bei der UNO nahe rückt. Aber der Erfolg eines Kriegsverbrechertribunals liegt wohl darin, dass es sich irgendwann selbst überflüssig macht.
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