Maik war einfach nicht naiv genug

Die schönen Ideen von damals und der Haufen Scheiße, der aus ihnen geworden ist: Bodo Morshäuser beschreibt die Sektenszene der 70er-Jahre. Der Roman „In seinen Armen das Kind“ enthält Sätze wie: „Für freie Liebe taten sie alles“

Es war einmal eine Generation, die hatte Angst. Angst vor Gift im Essen und Angst vor Autos, Angst vor der Mehrheit und dem Mehrheitsgeschmack, Angst vor geradlinigen Biografien und einer Lebensform, die sie voller Hass und Ekel als „Kleinfamilie“ abtat. Wenn sie auch nicht wusste, was sie wollte, so war sie sich doch einig darin, was sie nicht wollte: so sein wie alle anderen. Beruf, Familie, Eigentum – das waren nur Synonyme fürs ein verachtenswertes „falsches Leben“. Das „richtige Leben“ hingegen hing vom Bewusstsein ab. Wer das Bewusstsein veränderte, veränderte die Welt. Als Mittel waren Marx, Drogen, freie Liebe, Kräutertees und 1.001 Meditationsmethoden gleichermaßen recht.

So war’s doch, oder?

Na ja, vielleicht nicht ganz. Wie in jeder Generation so gab es natürlich auch in dieser jede Menge Zwischentöne. Aber Bodo Morshäuser will den Holzschnitt. Nicht wer-wie-was-warum ist sein Thema, sondern was bei all den schönen Ideen von damals hinten rausgekommen ist. Seine Antwort ist eindeutig: ein Haufen Scheiße.

Morshäuser, Jahrgang 53 und Berliner, siedelt sein Generationenporträt zwischen Dealer und Sekte an. Vera und Maik heißen seine beiden Protagonisten, die sich zunächst gemeinsam in Berlin durch esoterische Zirkel, Wohngemeinschaften, Kneipen und Beziehungswirrwarr hangeln. Als Vera schwanger wird, zieht sie mit ihrem Sohn aufs Land und wechselt dort von einer Kommune zur anderen, während Maik in Berlin und Frankfurt als Schauspieler Karriere macht.

Schwer zu sagen, was Maik plötzlich dazu bewog, sich auf die Suche nach seinem Sohn zu begeben. Schwer zu sagen, warum er aufgab, vom Kultschauspieler zum koksenden Nachrichtensprecher verkam und am Ende hartnäckig seine Suche zu Ende führte.

Schwer zu sagen – wie so vieles in diesem Roman. Denn Morshäuser hasst die Frage „warum?“. Wie andere Autoren, die in letzter Zeit Phänomene der 60er- und 70er-Jahre beschrieben haben, will er seinen Lesern diese Zeit nackt vor Füßen legen: ohne die Psychologie und Ursachenanalyse, mit der jene Generation sich so lange selbst belogen hat. Und das gelingt Morshäuser dann auch.

Nur was ist der Gewinn dieses Verfahrens? Dass wir endlich die wahre Geschichte erfahren? Die wahre Geschichte wovon? Was Morshäuser bloßlegt, ist seit langem bekannt. Schon auf den ersten Blick gleicht das Sektennetzwerk des Romans der AAO, der Aktionsanalytischen Organisation, die der Wiener Aktionskünstler und Sektenanführer Otto Muehl 1972 gründete und dann zu einem Netzwerk höchst profitorientierter Kommunen ausbaute. Ob es die kahl geschorenen Köpfe sind oder das Recht des Kommunenanführers auf „die erste Nacht“, ob es die Misshandlung der Kinder ist oder die zentrale Lenkung der kleinsten Einheit – spätestens seit Muehl der Prozess gemacht wurde, wissen wir, wie dieses totalitäre System funktionierte. Und auch die spirituelle Folklore jener Zeit, die Bräuche und Sitten der Esoterik- wie der Drogenzirkel sind keineswegs in Vergessenheit geraten.

Es sind gute alte Bekannte der jüngeren Zeitgeschichte, die in diesem Roman noch einmal aufleben. Und daran kann man durchaus Gefallen finden, zumal Morshäuser gerade die vielen Nebensächlichkeiten, die diesen gewissen 70er-Jahre-Geschmack auf der Zunge erzeugen, ausgezeichnet rekonstruiert. Im Einzelnen ist dieser Roman über „Unzucht und Ordnung“ sehr genau und dabei passagenweise spannend. Als solider Unterhaltungsroman mit zeitgeschichtlichem Hintergrund und einigen netten satirischen Schlenkern verdiente dieses Buch Lob – wenn es nur nicht dauernd mehr sein wollte.

Zu dem Eindruck trägt auch der Titel bei. Muehl und Goethe – das mag auf den ersten Blick originell klingen, überspannt den Deutungsbogen aber gewaltig. Denn die abgrundtiefe Verzweiflung des „Erlkönigs“, aus dessen letzter Zeile der Titel zitiert, findet im Roman keinerlei Widerhall. Woran das Goethegedicht sich festfrisst, darüber geht der Roman hinweg. Das Fieberhafte der Kinderträume, die Wahnsinnsrufe des Knaben, die Taubheit des Vaters im guten Glauben – all das sind Töne, die Morshäuser um keinen Preis anschlagen will. Als Ersatz bietet er Sätze wie diese an: „Es geht um Geld“ und „Für freien Sex taten sie alles“. Wie aufregend. Ein bisschen Marx, ein bisschen Reich – wieso kommt einem das nur so bekannt vor?

„Ich war einfach nicht naiv genug“, heißt es an jener Stelle im Roman, die den Sektenmechanismus nach Krimiart bloßlegen will. Man wird das Gefühl nicht los, dass hinter seiner Figur der Autor selber spricht. Und dass er einem bösen Irrtum erlegen ist: dass man nämlich nur naiv genug sein müsse, um das simplizistische Wesen totalitärer Systeme zu begreifen. Aber das ist dann doch arg naiv gedacht.

ANGELIKA OHLAND

Bodo Morshäuser: „In seinen Armen das Kind“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 368 Seiten, 22,90 €