: Spätes Grundgefühl für altes Gefährt
■ Während alle kräftig in die Pedale treten, lernen sie das Gleichgewicht zu halten: Frauen auf Rad-Kurs
„Üben, üben, üben! Das ist wie mit einem Musikinstrument“, sagt Sigrun Bösemann vom Bremer ADFC. Bevor es ans Üben geht, vermittelt die Sozialpädagogin vom Radel-Club erst einmal Grundsätzliches: „Sattel ganz runter stellen und Füße auf den Boden. Das gibt uns ein Grundgefühl für das Gefährt.“
Das Gefährt ist das Fahrrad. Der Klassiker zivilisatorischer Mobilität. Das Zweirad, das sich plötzlich ganz anders anfühlt, wenn Papa die Stützräder das erste Mal abschraubt – erst eins, dann frei: wacklige Kurven auf den Garagenhöfen der Kindertage. Aber was ist, wenn die Kindertage vorbei und der Mensch immer noch nicht sattelfest ist? „Dann helfen wir“, sagt Bösemann. Zumindest Frauen.
Seit 1996 bietet der ADFC in Kooperation mit der Volkshochschule und dem Landessportbund Fahrradkurse für jugendliche und erwachsene Frauen an. „Die Nachfrage war da, vor allem bei Frauen“, so Bösemann. Jedes Mal etwa zehn angehende Radlerinnen besuchen seitdem die Wochenendkurse, die Bösemann gemeinsam mit einer ADFC-Kollegin leitet. Damit man nicht schon wieder verschämt die Radtour mit Freunden am Wochenende absagen muss. Zwischen 14 und 60 Jahre alt sind sie, etwa die Hälfte kommt aus Russland, Korea, aus afrikanischen und südamerikanischen Ländern. „Viele der Migrantinnen leben schon zehn oder 15 Jahre in Deutschland und wollen nun endlich Fahrrad fahren lernen“ sagt Bösemann. Ein Blick auf Bremens Straßen und Radwege reiche aus, um das zu verstehen. Aber auch deutsche Frauen tun sich mit Drahteseln schwer. Die Ursachen, warum die Kursbesucherinnen nicht radfahren, sind ebenso unterschiedlich wie die Motive, es im Erwachsenenalter doch noch zu lernen. Ein Beispiel: Sandra Schröfel ist 15 Jahre alt als sie das erste Mal sicher im Sattel sitzt. „Das macht richtig Spaß jetzt“, freut sich die Schülerin aus Bremen, „Ostern bin ich mit meiner Mutter über den Deich in die Stadt gefahren, und zur Mathe-Nachhilfe fahr' ich alleine“. Als Kind litt Sandra unter schweren motorischen Störungen, fuhr zwar mit Stützrädern, „aber als die dann ab sollten, hatte ich immer eine Riesenangst umzufallen“, erklärt sie. Zur Schule ging sie zu Fuß, nur wenige MitschülerInnen wussten, dass sie nicht Rad fahren konnte. In der siebten Klasse drohte das Geheimnis aufzufliegen: „Wir sollten eine Fahrradtour machen, da bin ich zum Lehrer gegangen, und wir sind dann doch mit dem Bus gefahren, das war Glück“, erzählt sie.
„Angst ist das Stichwort“, weiß auch Kursleiterin Bösemann. Mut zusprechen und „viel viel reden“, sei ein Hauptbestandteil ihrer Arbeit. „Einige der deutschen Frauen haben ihre Angst seit einem Unfall, den sie vor zig Jahren miterlebt haben. Das zu überwinden braucht viel Vertrauen“, erklärt Bösemann, und „außerdem fühlt man sich als Anfänger ja schon ein bisschen unsicher und doof.“
Die zweitägigen Kurse verlegte sie daher in einen nicht einsehbaren Schulhof. Frauen und Räder unter sich. Dann geht's los, auf kleinen Klapprädern: erst nur schieben, dann mit einem Fuß rollern. Später dann in die Pedale treten. Alle fiebern mit.
Auch Rahel Samuel, die seit 14 Jahren in Bremen lebt und in ihrer afrikanischen Heimat nie die Möglichkeit hatte Rad zu fahren, wollte es endlich lernen. „Schwupps, und ich bin gefahren, ganz unproblematisch“, schildert die dreifache Mutter. Die Kinder waren es auch, die sie zu dem Kurs drängten. „,Andere Mütter können das, warum du nicht?', haben sie gefragt“, erzählt Samuel. „Mein schlechtes Gewissen hat mir geholfen, aber auf Hauptstraßen trau' ich mich noch nicht“. Doch das Wichtigste, sagt sie: „Meine Kinder sind jetzt stolz auf mich.“ Daniel Satra
Informationen zu Kursen bei Sigrun Bösemann (ADFC), Tel.: 790 17 58.
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