Die Produktivität des Zweideutigen

Das Berliner Archiv des Leo Baeck Institute und das Jüdische Museum luden zu einer Tagung über die „jüdische Beteiligung an der Weimarer Kultur“. Sehr viel Neues war zwar nicht zu hören – doch eine Art Heimkehr ist zu feiern

Nach jüdischem Verständnis ist der nicht tot, an den noch gedacht wird. Insofern leben all die berühmten Autoren, Komponisten, Maler, Wissenschaftler und Intellektuellen jüdischer Herkunft aus der Weimarer Republik noch heute: Kurt Tucholsky, Kurt Weill, Max Liebermann, Albert Einstein, Walter Benjamin und und und – sie alle spielen noch heute im öffentlichen Diskurs eine Rolle, sind lebendiger als viele Kulturschaffende, die heute leben. Auch deshalb muss, wer eine Tagung zum Thema „Die jüdische Beteiligung an der Weimarer Kultur“ organisiert, schon gut begründen, warum er dieses Phänomen noch originell findet.

Vielleicht ist das aber anders, wenn das Archiv des Leo Baeck Institute im und mit dem Jüdischen Museum Berlin Experten über dieses Thema diskutieren lässt, wie am Mittwoch geschehen. Denn das Leo Baeck Institute mit Hauptsitz in New York ist so etwas wie das Mekka, oder besser: das Jerusalem aller, die sich über die Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Jüdinnen und Juden bis zur Schoah informieren wollen: Gegründet wurde das Institut 1955 von Geistesgrößen, die selber dieser deutsch-jüdischen Tradition entstammen, wie der Soziologin Hannah Arendt und dem Religionsphilosoph Martin Buber. Das Institut sammelt in seinen Archiven seit Jahrzehnten die Überreste dieser speziellen Blüte des Judentums. Die vorbei ist. Leider.

Dieses „Leider“ ist zugleich eine Gefahr solcher Veranstaltungen im generellen und der Tagung im Jüdischen Museum im besonderen: Denn einerseits arten sie fast zwangsläufig in ein beinahe weihevolles und melancholisches Raunen deutsch-jüdischer Namen aus. Andererseits ist der Vorwurf wohlfeil, betrauert werde gerade von deutscher, nichtjüdischer Seite nur der Verlust der großen Namen, nicht ihre Schicksale – geschweige denn die der Millionen unbekannter Jüdinnen und Juden.

Um es vorweg zu nehmen: Die Tagung tappte nicht in diese beiden Fallen. Und das schon deshalb, weil die meisten Experten selber Juden waren und manche sogar aus dieser großen Zeit selber stammen oder sie zumindest noch erlebt haben – wie beispielsweise der deutsch-amerikanisch-jüdische Historiker Fritz Stern, der vor 76 Jahren in Breslau geboren wurde und 1938 vor den Nazis in die USA emigrierte. Fast eine lebende Legende, spricht der Friedenspreisträger mit besonderer Autorität und größerer Selbstverständlichkeit über den jüdischen Beitrag zur Weimarer Kultur. Das gilt auch für Michael Blumenthal, dem gleichaltrigen Direktor des Jüdischen Museums, der ebenfalls mit seiner jüdischen Familie in der Nazizeit aus Deutschland fliehen musste. Es ist, als tönten ihre Stimme aus einer längst vergangenen Zeit herüber.

Doch was hat die Tagung nun an Neuem gebracht? Nicht wirklich viel. Dass die Zeit der Weimarer Republik für ihre jüdischen Exponenten im Kulturleben eine, gemäß dem Tagungstitel, „Epoche der Zweideutigkeit“ war – diese Erkenntnis ist auch abseits von Expertenkreisen nicht sehr frisch. Weit gehende Assimilation der Mehrheit der Juden in der Weimarer Republik bei zugleich grassierendem Antisemitismus, Zerrissenheit als starker Antrieb für kulturelles Schaffen, eine kulturelle Explosion am Abgrund: Wem sind solche Stichworte schon noch fremd? Dass Schriftsteller wie Kurt Tucholsky, Alfred Döblin und Joseph Roth, wie der amerikanische Historiker David Clay Large erläuterte, ihre jüdische Herkunft lange verdrängten, ja an ihr, vor allem aber an ihrer Heimat litten: Das zu hören, war durchaus reizvoll. Neu war es eher nicht.

Dass man dennoch positiv von der Tagung reden sollte, liegt – neben der Faszination von Menschen wie Stern und Blumenthal – daran, dass mit ihr das Leo Baeck Institute eine Art Heimkehr antrat: Erstmals kam sie mit einer Tagung zurück an den Ort, wo das deutsch-jüdische Leben blühte und seine eigentlichen Wurzeln liegen, nach Berlin. Soll man sich da noch daran stören, dass die Tagungssprache Englisch war? PHILIPP GESSLER