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In erster Linie Begegnungen

Andrei Schwartz' Dokumentationen „Auf der Kippe“ und „Geschichten aus dem Lepratal“  ■ Von Jan Distelmeyer

Am Ende werden sich die Menschen von Dallas um den Filmemacher Andrei Schwartz versammeln, um ihre Gage abzuholen. Es wird nicht viel sein, das liegt ebenso auf der Hand wie die Präsenz jenes Teams, das alles andere als unsichtbar diesen Dokumentarfilm gedreht hat. Nicht nur die Erzählerstimme aus dem Off, die uns durch den Film führt, sagt „Ich“ – das ganze Projekt erzählt immer auch von der Gegenwart der Kamera: „Sobald es friert, stinkt der Müll nicht mehr, sagen die Leute auf der Kippe. Dabei habe ich noch Glück. Vor einer Woche waren es noch -20 °C, jetzt sind es nur noch die Hälfte.“

Auf der Kippe berichtet vom Leben in Dallas, einer Roma-Siedlung am Rande der Müllkippe des rumänischen Cluj (Klausenburg). Über ein halbes Jahr hatte Andrei Schwartz mit einem kleinen Team in der illegalen Siedlung der Roma gelebt und gedreht, mehr als 200 Stunden Material waren das Ergebnis. Für die Kinofassung von 1998 sind daraus 75 Minuten geworden. Allein dieses Zeit- und Materialverhältnis erzählt viel von Andrei Schwartz' Arbeitsweise, von der Nähe, die seine Filme zu ihren Themen und Darstellern eingehen. Auch sein neues Projekt Geschichten aus dem Lepratal lebt von dieser offensichtlichen Teilnahme: Knapp ein Jahr lang, von Silvester 1999 bis Weihnachten 2000, besuchten Schwartz und sein Team das Dorf Tichilesti, die letzte Lepra-Kolonie Europas. Und auch diesmal dokumentiert der fertige Film in erster Linie eine Begegnung.

Wo sind wir? Dallas heißt die Barackensiedlung, weil – so erklärt es Lena in Auf der Kippe – einer mal gesagt hat: „Wie die in Dallas habt ihr euch hier versammelt.“ Hier treffen wir zum Beispiel die Großmutter Dica, die eine Art Chronik des Unrechts, das ihr Leben war und ist, erzählt, die 13jährigen Ciula, die als Schwester zugleich die Mutter ihrer Brüder ist, und die Kinder Alin, Gabi, Niculaie und Aurel, die zusammen eine ganze Nacht auf der Kippe für umgerechnet knapp 1,5 Euro arbeiten. Die Summe ist entscheidend. So regelmäßig stellt Auf der Kippe die Fragen nach Geld und Essen, dass ein pittoreskes Bild von Armut als verbindendes Schicksal unmöglich wird. Die Normalität des Elends offenbart sich auch durch Ausflüge in die nahe Stadt, mit denen der Film die Unwirklichkeit dieser ausgegrenzten Gemeinschaft aufhebt und in die uns bekannte Welt zurückbringt.

Ich bin schon da: Gerade weil sich die Kamera immer als Teil des gemachten Bildes vermittelt, kann sie sich auf eine Weise zurückhalten, die den Menschen von Dallas und ihren Geschichten Raum gibt, ohne sie als Opfer immer schon „im Recht“ zu zeigen. Diese Form der Anteilnahme hat vor allem mit Res-pekt zu tun; und mit der Thematisierung von Vereinnahmung.

Ganz ähnlich prägt diese Technik die Geschichten aus dem Lepratal. Auch die Szenen und Dialoge in der rumänischen Lepra-Station, in der heute noch 28 Patienten zum Teil seit über 70 Jahren leben, zeugen und erzählen von einer im Dokumentarfilm-Genre seltenen Nähe. Aus der spürbaren Gegenwart des Filmemachers und einem so res-pektvoll wie genauen Blick auf die Patienten und ihre Lebenssituation entwickelt sich schließlich ein wunderbares Paradox: Durch den offenen und direkten Umgang mit ihr wird die Krankheit zusehends unsichtbar. Die von der Lepra gezeichneten Fingerstümpfe verschwinden hinter den Erzählungen und dem schwarzen Humor, mit dem die Protagonisten um Vasile, den „Bürgermeister“, Mandolina und den erblindeten Tatulea ihr Leben bestreiten. An die Stelle der berühmt-berüchtigten Krankheit mit dem Stigma der Unberührbarkeit treten Gesichter und Geschichten, in denen die Lepra nicht wichtiger ist als Liebe, Sexualität, Arbeit und Tod.

Die ganz eigene Schönheit der beiden Filme von Andrei Schwartz hat darum nicht nur mit der jeweiligen Landschaft Rumäniens zu tun und nicht nur mit der außergewöhnlichen Kameraarbeit von Gábor Medvigy und Bernd Meiners. Sie entsteht vielleicht am stärksten aus der Offenheit, die alle Seiten verbindet und mit der die Kamera den Menschen von Dallas und Tichilesti begegnet.

Geschichten aus dem Lepratal: heute (mit Andrei Schwartz, Dr. Ute Lippert vom Tropeninstitut und Dr. Jürgen König vom Aussätzigen Hilfswerk), Abaton; morgen + Mi, 17.4., 19 Uhr + Fr, 19.4., 17 Uhr, Metropolis; Auf der Kippe: morgen, 21.15 Uhr, Sa, 20.4., 17 Uhr + Di, 23.4., 19 Uhr, Metropolis

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