: Dekorneutrale Demokratie
DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
„Wer Goethe gelesen hat, wird nicht mehr wie ein Außerirdischer behandelt. Da und dort kehrt zögerlich ein gewisser Komment zurück. Die Krebsgabel wird nicht länger als ein kleiner Rückenkratzer bestaunt. Das bürgerliche Lebenspathos meldet sich zurück … möglicherweise tut sich ja etwas Ernsthaftes.“ Thomas E. Schmidt, Die Zeit, 11. 4. 2002
Beim Sonntagsfrühstück musste ich plötzlich an meine Tante Lotte denken. Und das kam so: „Guck mal, wird das schon wieder eine Debatte?“, fragte meine aufgeklärte Nichte und schob mir das Feuilleton der Zeit über den Tisch. „Die neue Bürgerlichkeit“ leuchtete der Titel, der Text ergab: Die Familie wird „wieder heilig gesprochen“, die Kinder werden getauft und auf „strenge Gymnasien“ geschickt, „Besitz und Bildung sind keine anstößigen Angelegenheiten mehr“ –kurz: „Die Deutschen suchen das Bourgeoise.“ Und das sei gut so.
Bei näherem Hinsehen entpuppte sich der Artikel als eine getarnte Werbung der Firma Manufactum („Die guten Dinge, es gibt sie noch“), als ein Mutmacher für das gute Leben mit gutem Gewissen, in einer Welt, in der Sozialdemokraten die pädagogische „Beglückungsattitüde“ der Siebzigerjahre abgelegt haben. Die Kulturgüter, die „von den Achtundsechzigern in die Grube getreten“ worden seien, fügten sich frisch geputzt zum „Mosaik des Neubürgerlichen“. „Wie früher“, verheißt der Text zum Foto eines Marmorkamins aus dem Jahre 2000. Dazu eine politische Unbedenklichkeitserklärung: Das alles habe nichts von Konservatismus oder CDU-Stammwählerschaft. Denn der „neue“ Bürger, den der Trendscout erblickt, hat die machtgeschützte Innerlichkeit durch die geldgestützte Innenarchitektur ersetzt, er sucht, mit Goethe, Hummergabel und Stutzflügel lediglich ein Leben in „Selbstbestimmung und Selbstverantwortung“ – ohne Ressentiment gegen die moderne westliche Welt, das all die zerquälten Gestalten von Mann bis Musil noch hegten, von denen so viele als Fellowtravellers irgendeines Sozialismus oder in haltloser Ironie endeten. Vorbei, verweht: Demokratie ist dekorneutral.
Diese Idee von neuer Bürgerlichkeit ist so entkernt, wie das neue Berliner Schloss es sein wird: Ihre Träger haben weder die Kraft zum Bourgois noch die Lust zum Citoyen. Sie wollen lediglich „souverän über die Freiräume der Modernität“ verfügen, als Kleinfamilien, Konsumenten und „nach Sinn suchende Sinnproduzenten“. So entkommt die Generation Golf der „eisernen bundesrepublikanischen Klammer zwischen Wohlstand und Meriten“ und wird zur Generation Saab. Schneidet Kupons und fragt die Kinder, das Partyplauderbuch von Schwanitz unter dem Arm, die Orestie und den Joyce ab.
Wenn da nur nicht diese kleine Sorge hockte, am Rande der glücklichen Familie: dass das „Problem der sozialen Ungleichheit wiederkehrt“. Das droht nun allerdings schicksalhaft zu werden, wenn es in der neobürgerlichen Analyse nicht mehr um das Problem von Einschluss oder Ausschluss aus der Arbeitsgesellschaft geht, sondern die sakrosankte Scheidung in Erben und schlecht gestellte Urstände feiert. Aber keine Angst, „eines Tages“ wird die neubourgeoise „Kraft“ schon reichen, um diese „Schieflagen“ auszugleichen, damit die Kinder Ehefrauen auf dem Weg zur Schule oder Mall nicht gekidnappt werden.
Niemand will den individualisierten Konsumbürgern mit Kaufkraft die Bemühung um ein sinnvolles Leben absprechen, aber dieser Begriff von Bürgerlichkeit ist so ökonomie- und machtfern, also deutsch wie immer: auf zwei Seiten kein Wort davon, wo die Arbeit gemacht wird, deren Früchte die Kupons nachwachsen lässt.
Aber woher mein Ärger am Frühstückstisch? Es ist doch nur Feuilleton. Wahrscheinlich, weil ich auch ein Erbe bin. Von Tante Lotte und Onkel Walter, den einzigen Bürgern in meiner Verwandtschaft. Die haben mir zwar kein Geld vererbt, aber ein paar Bücher von Thomas Mann und Goethe. Als Onkel Walter dann tot war, durfte ich mit Tante Lotte ins Theaterabonnement gehen. Sie roch nach Tosca und verstand nicht viel, aber wenn die Strindberg-Figuren sagten „Es ist schade um die Menschen“, suchte sie immerhin seufzend nach der Garderobenmarke. In den geerbten Büchern von Thomas Mann fand ich den Satz: „Es gibt nichts Schöneres, als wenn die Hand beim Aufwachen eine Daunendecke streift“, und im Galileo (da kam Tante Lotte nicht mit) erfuhr ich, dass es Sinn der bürgerlichen Wissenschaft sei, diesen Zustand, so weit es geht, zu verallgemeinern.
Tante Lotte, das war die bildungsbürgerliche (und politisch nicht unbedenkliche) Schrumpfform des Bürgers gewesen. Aber was mir hier zum Sonntagsfrühstück als „neue Bürgerlichkeit“ auf den Tisch kam, ist die Schrumpfform einer Schrumpfform: der Missbrauch des bloßen Wortes „Bürger“, das ja ohne Öffentlichkeit, ohne Universalismus, ohne Verantwortungsethik und ohne Produktionsmoral weder den Bourgeois noch den Citoyen meint, zur Garnierung der bloß ästhetischen Privatexistenz. Griechisch gesprochen: die Apotheose des gesellschaftslosen „Idioten“, der es sich in Papas glänzenden Ruinen gemütlich macht, mit einem Gestus, der noch der bürgerlichen Ironie ihren Kern nimmt: den Schmerz, dass es so ist.
Ich will mir das Wort „Bürger“ nicht vermiesen lassen. Der erste Bürger, den ich bewusst sah, war ein weißhaariger, alter Mann mit Krawatte und Weste, den Polizisten vom Trottoir vor der Downing Street Nr. 10 hoben. Nobelpreisträger Bertrand Russell, der dort gegen die Atomrüstung und ihre globale Zerstörungskraft protestierte. Er war gekleidet wie mein Onkel Walter, der mir den Thomas Mann aus dem Schrank zog, bei dem ich später las, er sei zwar „ein Sohn des bürgerlichen Individualismus“, aber sehe die Zukunft der Kunst darin, „dass sie in sich die Dienerin sehen wird an einer Gemeinschaft, die weit mehr als ‚Bildung‘ umfassen und Kultur nicht haben, vielleicht aber dergleichen sein wird“. Bürger, wirkliche Bürger heute, säßen vor dem IWF und protestierten gegen die globale Zerstörungskraft der Geldbombe, die alles zerstört, was einmal bürgerlich hieß …
So lamentierte ich, beim dritten Latte Macchiato, über fehlende Begriffshygiene, abgebrochene Geschichtsfäden, Erbtheorien und dergleichen, als mir meine Nichte mit einem heimtückischen „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es …, meinst du das?“ den hinteren Teil der Zeit zuschob. Drei junge Erben waren da porträtiert, einer davon Pressereferent bei Attac, die gerade die „Bewegungsstiftung“ gegründet haben, deren erste Taten die Unterstützung des Bundeskongresses entwicklungspolitischer Gruppen und einer Lesbenzeitung in der Türkei sind. Und da sie historisch gebildet ist, setzte sie hinzu: „Gab es vor der Französischen Revolution nicht zunächst überall diese kleinen Inseln der Bürgerlichkeit, in befreiten Gebieten und Städten?“
Die Nichte hat natürlich Recht. Das Bürgertum ist erst am Anfang. Ihr Bürgertum. Alles noch mal also und diesmal global und mit möglichst vielen Nobelpreisträgern auf dem Weg. Und während mich ein Hauch von hoffnungsfroher Ungewissheit streifte, grinste sie über den Tisch: „Was vererbst du mir eigentlich?“
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