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Dschenin wird zum Mythos

In Israel wird heftig darüber diskutiert, was in dem Flüchtlingslager geschah. Scharon will den Fatah-Chef des Westjordanlandes vor Gericht stellen

von CARSTEN WEILAND (dpa)und SUSANNE KNAUL

Bis vor wenigen Tagen tobten im palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin die blutigsten Gefechte seit dem Einmarsch israelischer Truppen ins Westjordanland. Jetzt beginnt die Spurensuche, und in Israel werden heftige Debatten geführt: War Dschenin eine Schlacht oder ein Massaker?

„Am 54. Unabhängigkeitstag steht uns, dem Volk Israels, ein Kainsmal – das „Massaker von Dschenin“ – auf der Stirn geschrieben“, schreibt der Kommentator der Zeitung Jediot Achronot. „Wir haben die Pflicht, uns davon zu reinigen.“ Zugleich erhebt er den Vorwurf, den auch israelische Regierungsbeamte privat und Soldaten offen äußern: Es war ein großer Fehler, die Medien aus Dschenin auszuschließen. Nur so hätten sich „Gerüchte“ um ein Massaker in die Welt verbreiten können.

Der Friedensaktivist Uri Avneri meinte, Dschenin werde im Gedächtnis fest verankert bleiben als „palästinensisches Stalingrad, eine Geschichte unsterblichen Heldentums“. Er fügte sogleich eine neue Legende hinzu: Ministerpräsident Ariel Scharon solle in sein Tagebuch schreiben: „In Dschenin gründete ich den Staat der Palästinenser.“ Dagegen betonte Israels Generalstabschef Schaul Mofas in einem Interview vom Dienstag: „Im Flüchtlingslager von Dschenin gab es kein Massaker, und es war kein Stalingrad. […] Dort gab es eine Schlacht.“ Palästinensische Extremisten hätten in der Enklave Zivilisten als lebende Schutzschilde genommen.

„Die Palästinenser haben ein Problem“, meint ein Menschenrechtler hinter vorgehaltener Hand. „Entweder ist es ein Massaker oder ein heroischer Kampf. Beides zusammen geht nicht.“ Die ersten Journalisten, die das Lager in Dschenin besuchen durften, berichteten jedoch, sie hätten keine Spuren eines Massakers entdeckt. Die Zerstörung an Gebäuden sei allerdings „gigantisch und kaum zu beschreiben“.

Der von israelischen Militärs seit Wochen „meistgesuchte Mann“ Marwan Barghuti, Chef der Fatah im Westjordanland, soll vor Gericht gestellt werden. Barghuti war in der Nacht zum Dienstag in Ramallah verhaftet worden. Jediot Achronot zitierte gestern Vertraute von Scharon, die mit „mindestens 150 bis 200 Jahren Haftzeit“ für ihn rechnen. Der Chef der Fatah wird, Berichten zufolge, derzeit in einer Jerusalemer Haftanstalt verhört. Er ist der bislang ranghöchste palästinensische Politiker, der verhaftet wurde.

Für US-Außenminister Colin Powell, der gestern erneut mit Scharon zusammentraf, sinken die Aussichten auf einen Erfolg seiner Nahostmission mit der Verhaftung Barghutis auf einen neuen Tiefpunkt. Der Außenminister erklärte zwar, dass im Rahmen seiner Gespräche „Fortschritte erkennbar“ seien, dennoch erwarte er selbst als Ergebnis seiner Mission nicht mehr als eine beidseitige Waffenstillstandserklärung. Powell will heute in Ramallah zum zweiten Mal mit Arafat zusammentreffen, auch um eine gemeinsame Erklärung, die den Terror verurteilt, auszuformulieren. Einem von der Nachrichtenagentur AP veröffentlichten Entwurf zufolge hält die Erklärung fest, dass der palästinensische Staat „nicht durch Terror, sondern infolge von Verhandlungen“ erreicht werden soll. Aus dem israelischen Außenministerium verlautete, dass man zunächst den Besuch Powells abwarten wolle, bevor man sich anderen Initiativen zuwende. Die „Idee“ des bundesdeutschen Außenministers Joschka Fischer, der vorschlug, zunächst den Staat Palästina zu gründen und anschließend innerhalb von zwei Jahren einen Friedensvertrag auszuhandeln, sei „eine unter mehreren“. Dennoch werde Fischer in Israel hoch geschätzt. Sein Wort wiege hier schwer.

Während die israelische Militäroffensive in Ramallah und Bethlehem noch unbestimmte Zeit andauern wird, kündigte Scharon in einem Interview mit CNN an, dass die Truppen „innerhalb einer Woche“, vermutlich schon bis Sonntag, aus den anderen palästinensischen Städten abziehen werden. Die Vorwürfe, die Armee veranstalte „Massaker“ im Flüchtlingslager von Dschenin, nannte Scharon eine „Lüge“. Es sei „eine schwere Schlacht“ gewesen, dennoch habe Israel nichts zu verbergen. Überhaupt sei es absurd, dass die Welt die Opfer kritisiere und die Täter unterstütze, sagte Scharon. Die Operation habe nichts anderes zum Ziel, als den Terror zu bekämpfen.

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