piwik no script img

In den Trümmern von Dschenin

aus Dschenin KARIM EL-GAWHARY

Es ist der penetrante Geruch von Verwesung, der die Lebenden zu den Toten führt im palästinensischen Flüchtlingslager Dschenin, zwei Wochen nach Beginn der israelischen Invasion. Aschraf Abu Hejar befindet sich im ersten Stock seines ausgebrannten Hauses. Er liegt auf einer Matratze vor dem Fenster, Arme und Beine sind weggerissen, der Rest seines Körpers ist eine anonyme verkohlte Masse. Hejar ist einer von einem Dutzend Toten, die Mitarbeiter des palästinensischen Roten Halbmondes und des Roten Kreuzes seit diesem Morgen aus dem Lager transportieren. „Wir müssen mit der Armee den Transport koordinieren und die Verwandten finden“, beschreibt Rotkreuz-Mitarbeiter Dr. Ahmad al-Suqi die Aufgabe und hält sich die Hand vor Mund und Nase, um dem Gestank zu entgehen.

Eine von einem israelischen Kampfhubschrauber abgeschossene Rakete sei direkt in das Fenster von Hejars Haus eingeschlagen, erzählt sein Nachbar Jawal Qassem Husni. Husni ist gerade zum ersten Mal zu seinem Haus zurückgekehrt oder besser zu dem, was davon übrig ist. Die Vorderseite wurde von einer Rakete weggerissen, die Rückseite hat ein Bulldozer zum Einsturz gebracht. Ein Teil des zweiten Stocks hat sich schräg über den ersten geschoben. Davor hängt der ehemalige Wassertank auf dem Dach wie eine Blume, die ihren Kopf hängen lässt, nur noch von einem Rohr gehalten über der engen Gasse. „Das ist das, was Scharon von meinem Haus übrig gelassen hat“, sagt Husni.

Wie viele, die man in Dschenin trifft, spricht er in einem seltsam ruhigen, fast betäubten Ton, als stünde er noch unter Schock. Husni holt aus seiner verschlissenen Jacke eine blaue UN-Flüchtlings-Registrierkarte und liest die Namen seiner Familie ab, seiner Töchter Rima und Rhanda und seiner Söhne Muhammad, Qassem, Rawas und seiner Frau Ilham.

Heftig reagierte die Armee, nachdem durch ein Selbstmordattentat im Lager auf einen Schlag 16 ihrer Soldaten getötet wurden, die Zahl der israelischen Verluste lag da bei 23 Toten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, so berichten es die Bewohner, hätten drei bis vier Kampfhubschrauber in der Luft gestanden, Raketen abgeschossen und mit der Bordkanone gefeuert. Wo man hintritt, liegen die Reste der Raketen. Vergangene Woche hat die Armee nachts alle Einwohner per Lautsprecher aufgefordert, die Häuser zu verlassen. Im anschließenden Chaos hat Husni seine Familie verloren. Im Moment weiß er nicht, ob sie irgendwo unter dem Bauschutt liegt oder ob sie wie viele andere in die umliegenden Dörfer geflüchtet ist.

Unmittelbar hinter Husnis Haus beginnt das Innere des Flüchtlingslagers: ein Gebiet in der Größe von drei Fußballfeldern, das aussieht wie das Epizentrum eines Erdbebens. Bulldozer der israelischen Armee haben dort das einst dicht besiedelte Zentrum des Lagers zusammengeschoben: Eine Masse aus Beton, Küchengeräten, Möbelteilen, Matratzen, Teppichen und Spielzeug ist übrig geblieben. „Sie haben uns aufgerufen, die Häuser zu verlassen, und dann kamen sie mit diesen riesigen Bulldozern, ich meine wirklich riesige Bulldozer der Größe XL“, sagt ein Einwohner: „Die rammen nur ein einziges Mal in dein Haus und nichts steht mehr.“

Yonathan Wolff, einer der israelischen Reservisten, die in Dschenin im Einsatz waren, rechtfertigt den Einsatz der gepanzerten D-9-Militärbulldozer: „Wir mussten die Häuser zerstören, weil wir keine andere Wahl hatten. Wir konnten nicht in die Häuser reingehen, weil sie voll mit Sprengstofffallen waren, also mussten die Bulldozer ran.“

Eingerahmt ist das Werk der Bulldozer im Zentrum Dschenins von Gebäuden, denen die Vorderseite fehlt und die das private Innere des Flüchtlingslebens preisgeben. Viele von ihnen weisen Raketeneinschläge auf. Fast trotzig wirkt da das knallrot bezogene, fast neu wirkende Biedermeiersofa, das im ersten Stock eines der Häuser über dem Ganzen thront.

Unter der zusammengeschobenen Masse seien zahlreiche ihrer Nachbarn begraben, sagen die wenigen verschreckten Menschen, die aus den halb stehen gebliebenen Häusern kommen. Wie viele hier in den letzten zwei Wochen den Tod gefunden haben, weiß niemand genau zu sagen. Hunderte werden vermisst, aber keiner weiß, wer tot ist, wer verhaftet wurde oder in die umliegenden Dörfer geflüchtet ist. Wegen einer Ausgangssperre konnten die Geflüchteten bisher nicht zurückkehren.

Zwei palästinensische Menschenrechtsorganisationen haben inzwischen beim obersten israelischen Gericht eine Petition eingereicht, dass die israelische Armee alle Leichen, die hier geborgen wurden, dem Roten Kreuz übergibt. Außerdem fordern sie, dass die israelische Armee dem Roten Kreuz eine Liste mit den Namen aller in Dschenin Verhafteten zur Verfügung stellt. Nur so ließe sich annähernd feststellen, wie viele Menschen in dem Lager im Westjordanland ums Leben gekommen sind.

Die israelische Armee sprach zunächst von 100 bis 200 Toten in Dschenin. Nach einem internationalen Aufschrei ist man dort aber inzwischen vorsichtiger geworden und spricht nur noch davon, dass 45 Leichen tatsächlich geborgen wurden. Die Mehrheit, erklärt die Armee, seien bewaffnete Terroristen gewesen. Zudem weisen Israels Militärs immer wieder darauf hin, dass es sich um einen Einsatz zur Ausrottung des Terrors gehandelt habe. 23 von 100 Selbstmordattentätern sollen aus Dschenin gekommen sein.

Von palästinensischer Seite ist dagegen von einem Massaker mit mehreren hundert Toten die Rede, von dem auch die zivile Bevölkerung nicht verschont geblieben sei. Wie viele Menschen am Ende unter welchen Umständen in Dschenin umgekommen sind, wird sich, wenn überhaupt, nur feststellen lassen, wenn den Hilfsorganisationen erlaubt wird, schweres Gerät in das Lager zu bringen, um den Bauschutt aufzuräumen und die verschütteten Leichen zu bergen. Bisher hat die Armee, die den Eingang zum Lager kontrolliert, derartige Anfragen abgelehnt.

Die UN-Hilfsorganisation UNWRA berichtet von sieben Menschen, die lebend aus den Trümmern geborgen worden seien. Auch unter den Bewohnern im Lager kursieren Berichte von lebend Begrabenen. Etwa die des querschnittgelähmten 30-jährigen Jamal Raschid Faid. Er soll letzten Freitag mit seiner Familie zusammengesessen haben, als die Warnung kam, das Haus zu verlassen. Der Hinweis, dass Jamal querschnittgelähmt ist, soll die Soldaten nicht beeindruckt haben, vermutlich hatten sie geglaubt, es handle sich um einen verletzten palästinensischen Kämpfer. Die Familie, berichten die Nachbarn, sei gerade noch vor den Bulldozern aus dem Haus geflüchtet – ohne Jamal.

Die Bewohner Dschenins sind natürlich parteiisch – wie könnte es auch anders sein. Aber viele der Aussagen, die man bekommt, stimmen überein. So auch, dass es die Praxis der israelischen Armee gewesen sei, palästinensische Zivilisten als lebende Schutzschilde zu verwenden. Der 35-jährige Ismail Khatib ist einer von fast einem Dutzend Männern im Lager, die alle die gleiche Geschichte erzählen. Er packt sich selbst am Kragen, um zu zeigen, wie ein israelischer Soldat ihn mitgenommen hat, um mit gezückter Waffe über Ismails Schulter durch die Gassen des Lagers zu patrouillieren. Ein in Dschenin eingesetzter Soldat bestätigt in der israelischen Tageszeitung Haaretz diese Praxis. „Wenn ein palästinensischer Scharfschütze einen Freund sieht, dann schießt er nicht.“

Eines der wenigen Gebäude, das noch steht, ist die Hauptmoschee des Lagers. Dass sie von den Einwohnern nicht mehr als heiliger Platz betrachtet wird, zeigt, dass sie ohne zu zögern mit ihren Schuhen in das Gebäude gehen, um zu zeigen, wie es drinnen aussieht. Strategisch gut gelegen, als eines der höchstgelegenen Gebäude im Lager, hatte sich die Armee dort einquartiert. Dort wo sich die Moscheebesucher normalerweise zum Gebet waschen, liegt eine Kognakflasche. Im Waschbecken klebt Kot. Ein Junge sammelt im Inneren des Gebetsraumes ehrfürchtig zerfetzte Koranseiten vom Boden auf.

Die 19-jährige Hanan ist hin- und hergerissen, ob sie einen in einem herausgerissenen Fensterrahmen eingeklemmten zerknitterten Koran aufheben und ins Regal zurückstellen soll oder ob sie ihn für die Fotografen liegen lassen soll. Sie entscheidet sich für Ersteres. Dann blickt sie von der Balustrade der Moschee auf das niedergewalzte Zentrum des Lagers. „Nichts mehr übrig“, das sind ihre einzigen Worte.

Fototexte:

Der palästinensische Lagerbewohner erklärt: „Die Bulldozer rammen nur ein einziges Mal in dein Haus, und nichts steht mehr.“

Der israelische Soldat sagt: „Wir konnten nicht in die Häuser reingehen, weil sie voll mit Sprengstofffallen waren, also mussten die Bulldozer ran.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen