piwik no script img

Niederungen im Jahr der Berge

taz-Serie: „Berliner Bergwelt“ (Teil 2): Plädoyer für den Schutz der Rehberge. Dort, wo die Vergeblichkeit des Seins spürbar ist. Eine Choreografie des kleinen Wahnsinns im Alltag. Denn nirgendwo sonst in Berlin ist ein Park so sehr ein Zuhause wie hier

von WALTRAUD SCHWAB

Berlin ist voller Erhebungen. Im Jahr der Berge 2002 gilt es, diese zu schützen. Vor der nächsten Eiszeit zum Beispiel. Schon dreimal ist sie über das Land gezogen, hat alles zermalmt, was da war, und riesige Schutthalden zurückgelassen. In den Rehbergen liegt noch ein Findling, vom Bezirksamt zum Naturdenkmal erklärt. Als Warnung wohl.

Ob die Vereinten Nationen die Rehberge gemeint haben, als sie den Schutz der Berge ausriefen? Zersiedelung, Erosion, Waldsterben, Freizeitstress für die Flora und Fauna soll die Gebirgswelt zerstören, monieren die Mahner. Dieser Ort im Nordwesten Berlins hat das längst hinter sich. Der Weg auf die höchste Erhebung ist gepflastert. Damit auch mit Absätzen gut zu gehen ist.

Überhaupt, was die Rehberge schon alles waren, bevor sie zum Park wurden: Flussbett, Klosterwald, Jagdrevier, Wüste, Dünenlandschaft, Abraumhalde, Truppenübungs- und Schießplatz, Terrain für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Abbaugebiet für Scheuersand. Für einen kupfernen „Dreier“, so viel, wie damals eine Schrippe kostete, bekam man eine Hand voll dieses feinen Pulvers, mit dem die Berlinerinnen bis vor 80 Jahren ihre Töpfe schrubbten. Was dreimal von tonnenschweren Eismassen niedergewalzt wurde, fand – aus Hausfrauensicht – hier seine Vollendung. Nicht Gold, große Geschichte oder gar Öl liegen unter der Metropole, das einzigartige Berlin ist auf Scheuersand gebaut. Das erste Zahlungsmittel – die Muschel – ist hier nur noch als Staub erhältlich.

Arm müssen die Sandfuhrleute gewesen sein. Deshalb haben sie angefangen zu murren und bessere Entlohnung gefordert. Seither tauchen sie viel bewundert in der revolutionären Literatur als „die Rehberger“ auf. Unter gleichem Label firmieren auch die Arbeitslosen, die die Sümpfe um den Plötzensee trockenlegen sollten, aber 1848 lieber in die Revolution eingriffen. Die poetische Aura, die ihnen angedichtet wird, reicht von „sinnenfroh“ über „rebellisch“ bis „faul“.

Bereits im 19. Jahrhundert gab es Pläne, aus dem Gelände, das nach dem Ersten Weltkrieg durch wilde Abholzung versandete, einen Park zu machen. 1926 kaufte der Magistrat die etwa 150 Hektar große Wüste. Erneut waren es Arbeitslose, die in einem Notstandsprogramm daraus in drei Jahren eine Grünanlage mit Wäldern, Spielflächen, Sportplätzen, Tiergehegen, Freilichtbühne und Wasserspielen bauten. Höchste Erhebungen: die Rodelbahn und der Leutnantberg. Von dort war früher der Schießplatz zu überschauen.

Die Vergeblichkeit des Seins liegt der Grünanlage als verwunschene Aura bis heute zugrunde. Im Großen zeigt sich das nicht, wohl aber an den Menschen. Denn in keinem anderen Park kommt der Weddinger – legitimer Nachfahre des Rehbergers – so gut zum Zuge wie hier. Weil er gleich nebenan wohnt, betrachtet er den Ort als Hausgarten und verlustiert sich darin, als hätte er drum herum zum Schutz vor Beobachtung einen Zaun aus Buchsbaum gepflanzt und könne nun tun, was er wolle. Dem Flaneur kann das recht sein. Wo kein Adler, sondern der Graureiher haust und kein Edelweiß aber Löwenzahn wächst, gibt es immerhin die Geschichten vom kleinen Wahnsinn im Alltag.

Vormittag

Jenseits der Transvaalstraße ist eine weite, offene, karg bewachsene Fläche, die bis zu den Wildschweingehegen führt. Von Osten nach Westen ausgerichtet liegt sie im Licht der aufgehenden Sonne, sofern diese scheint. Im Sommer ist sie Picknickhalde, im Herbst Drachenhöhe, das ganze Jahr über aber eine Auslaufplattform für Jogger und Hunde. Auf diesem Laufsteg versuchen drei Jungen mit ihren Handys das magische Auge der Zukunft zu ermessen. Herausfinden wollen sie, ab wie viel Metern das Telefon ihren natürlichen Stimmen überlegen ist. Das Handy am Ohr und im Dreieck aufgestellt, sprechen sie miteinander und gehen dabei stetig einen Schritt weiter auseinander. Die Kerle – jene von der altklugen Sorte – sind davon überzeugt, dass die Menschheit das Schreien verlernen wird, weil es am Handy keinen Sinn macht.

Das sieht eine Spaziergängerin anders. Sie bittet die Handyjungs, mal telefonieren zu dürfen. Sie möchte die Polizei rufen. Sie sollen die Golfspieler, die ihre Bälle über die Fläche schlagen, vertreiben. „Hallo, was machen Sie da“, habe sie den einen, der sich gerade den Ball vor die Füße legte und seinen Schläger ausrichtete, gefragt. „Ich spiele Golf“, soll der Mann gesagt haben. „Golf“, habe sie wiederholt. „Ja, Golf“, soll der Mann erwidert haben. „Tut das weh, wenn man so einen Ball abkriegt“, habe die Frau gefragt. „Damit kann ich sogar jemanden umbringen“, soll der Mann erwidert und dabei den Ball abgeschossen haben. „Umbringen?“, habe die Frau wiederholt und zugeschaut, wie der Spieler seinen Caddy packte und loszog. Sie sei ihm noch nachgelaufen und habe ihn gefragt, warum er das dann hier mitten unter den Leuten am Sonntagmorgen spiele. „Ich weiß, wo ich hinschlage“, habe er gesagt.

Aufgeregt schreit sie alles ins Handy. Der Polizist am Ende der Leitung scheint unentschlossen. Offenbar fragt er die Frau, wie der Mann aussehe. Ihr reißt der Geduldsfaden. „Er sieht aus wie der Mann vom Amt, der Mann von gegenüber, der Mann, der in seinem Auto an einer Kreuzung darauf wartet, dass Grün wird, und dabei die Ampel anhupt.“ Dann sagt sie nichts mehr, gibt dem Jungen das Handy zurück.

Nachmittag

Ganz nah am grünen Zaun des Hühnergeheges, in dem sich ein paar exotische Varianten des Nutztiers befinden, hat eine Frau ihre Staffelei aufgebaut. Auf dem Blatt aber ist kein vielfarbiges Huhn abgezeichnet. Stattdessen hat sie einen Bogen Rechenpapier gespannt, dessen Kästchen teilweise farbig ausgemalt sind. „Was macht die Frau?“, fragen Kinder ihre Eltern. „Die zeichnet Vögel“, antworten die. „Nein“, behaupten die Sprösslinge frech. Die Eltern versuchen abzulenken. „Schau da, das Perlhuhn“, sagt ein Vater und zeigt auf das kugelrunde schwarze Tier mit eleganten weißen Punkten. „Was macht die Frau“, insistiert das Kind erneut, als sie vor dem Käfig stehen, in dem der Star der Sammlung ist. Ein Huhn, das alle Farben in seinem Kleid hat: Rot, Orange, Gelb, Rotbraun, Grün und Blau. Wie ein samtener Umhang leuchtet das Gefieder im Licht. „Frag die Frau doch selbst“, sagt der Vater, aber da dreht sich die Malerin auch schon um. „Ich zeichne das Muster vom Vogelkleid ab. Ich möchte mir einen Winterpullover stricken, der genau so aussieht“, erklärt sie. „Genau so?“, fragt das Kind.

Abend

Abgewandt ziehen sich zwei Frauen an, und zwar in der hinteren Ecke des Umkleideraums im Freibad Plötzensee, das mitten in den Rehbergen liegt. Ihre Kleider liegen auf der Bank, die sich entlang der Fensterseite zieht. Außer ihnen sind noch vier weitere Schwimmerinnen in der Dusche nebenan. Zwei sind gerade beim Einseifen. Die anderen mit Abduschen fertig. Mit Gänsehaut stürmen Letztere in den Umkleideraum zu ihren Taschen. Eine der abgewandten Frauen aus der Ecke, schimpft. Ihre Wut gilt einem Mann, dem sie „das“ nie mehr erlauben wolle. Sie klingt fest entschlossen. Ja, sie möchte ihn sogar umbringen, wenn er „das“ jetzt auch Marina antue. Voller Erregung schreit sie ihre Warnungen der Wand entgegen. Ihre Freundin sagt: „Richtig!“ Und: „Mach Schluss!“

Nun kommen auch die anderen zwei aus der Dusche. „Ist ja was los hier“, meint die Jüngere. Wie alle breiten auch sie ihre Klamotten auf der Bank am Fenster aus. Am vorderen Ende zwei, in der Mitte zwei und hinten die abgewandten beiden. Sie trocknen sich ab, cremen sich ein. Die ältere der beiden Frauen am vorderen Ende des Raumes geht halb bekleidet zum Spiegel. „Hast du eine Pinzette?“, fragt sie ihre Mitschwimmerin. Mit der Zunge streicht sie über die Oberlippe, spürt ihrem Damenbart nach.

Die Abgewandte in der hinteren Ecke hat einen erneuten Wutanfall. „Ich steche ihm die Reifen kaputt, wenn er das noch mal macht. Und wenn er Marina anfasst, dann schmeiß ich ihn raus.“ Ihre Freundin sagt: „Du hast ihn doch schon rausgeschmissen.“ Die Frau am Spiegel wiederum zupft sich ihr Barthaar und beäugt kritisch die Spuren des Alters. Als sie sich wieder ihrer Mitschwimmerin zuwendet, sagt sie: „Ich will keine Tabaksbeutelfalten.“ Irritiert fragt die Freundin: „Was ist los?“ Die Abgewandte am hinteren Ende schimpft erneut auf den Mann. „Wenn der mich noch einmal anfasst.“ Am vorderen Ende: „Ich will keine Tabaksbeutelfalten.“ Ihre Freundin fragt: „Wat’n det?“ „Na, so’ne Falten senkrecht übern Mund!“ Die Abgewandte am anderen Ende schämt sich mittlerweile nicht mehr für ihr blaues Auge und hat sich umgedreht. „Ich schmeiß ihn raus“, wiederholt sie. „Du hast ihn doch schon rausgeschmissen!“, sagt ihre Freundin noch einmal. „Meine Mutter hat Tabaksbeutelfalten und sieht so verhärmt aus“, raunt es von der vorderen Seite. Von der hinteren aber kommt mittlerweile ein Schluchzen. Die mit dem blauen Auge sitzt auf der Bank und heult: „Ich lieb ihn doch so.“ Endlich tut sich auch etwas bei den Frauen in der Mitte. „Ich hab Cellulitis an den Waden“, raunt die eine und zwinkert der mit den Tabaksbeutelfalten beim Herausgehen zu.

Nacht

Nur wenige Liebespärchen sitzen in jener mondhellen Frühsommernacht auf den Bänken in der Nähe der Wiese, wo die Gedenktafel zu Ehren der Arbeitslosen steht, die den Park gebaut haben. Plötzlich aber marschieren ein paar Männer mit großen Metallkoffern zielsicher auf das Feld und stellen ihr Gepäck im Gras ab. Sie sehen nicht aus wie Filmleute oder Gottesanbeter und auch nicht wie die Spurensicherung oder Camper. Die Koffer tragenden Ankömmlinge plaudern miteinander. Einer lacht. Der andere klopft ihm auf die Schulter, als hätte er sich verschluckt. Der Dritte wirft seine Zigarettenkippe weg. Dann öffnen sie ihre Koffer und ziehen dunkle Stöcke und Beutel heraus, deren Schatten aus der Distanz langsam als Dudelsäcke erkennbar werden. Die Ankömmlinge pumpen sie auf und blasen hinein. Schrill, markerschütternd, laut und in unreinem Ton zieht die Einstimmung vom Leutnantberg bis zum Rathenaudenkmal auf dem Rodelberg und weit darüber hinaus. Die Töne erinnern weder an Tambourmajore noch an Jahrmärkte noch an die Größe großer Nationen. Zwei Verliebte wandern eng umschlungen über die Wiese und bleiben neugierig nahe dem Dudelsackspieler stehen. Auch ein nächtlicher Jogger mit Hund zieht seine Bahn eng um das kleine Grüppchen, das nach der ersten Atemübung – um eine Trommel verstärkt – seine blechernen Melodien in den Himmel schreit. Es ist eine herzzerreißende Musik an den Horizont und die Zeit. „Passend zum Vollmond“, ruft die Verliebte den Musikern zu. Sie schicken ihr als Antwort schwer atmend einen Ton. Er geht mitten durchs Herz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen