: Mehr Land als Leute
Fluchtpunkt Island. Wo nichts los ist, treibt die Kunst Blüten. Für Dieter Roth war die Insel ein produktiver Ort, für seinen Künstlerfreund Oswald Wiener war Roth das Material
von NILS RÖLLER
„inkognito sitzt er in island und häuft selbstgefühl an; was er wohl leisten könnte, wäre er, wo etwas los ist!“, schreibt Oswald Wiener über seinen Freund, den Künstler Dieter Roth. Sie treffen sich zum ersten Mal 1966. Wiener ist zu diesem Zeitpunkt ein Star in seiner Heimatstadt Wien: angehimmelt als Fahrer einer Harley Davidson, sagenumwoben als zeitweiliger Mitarbeiter von Olivetti und berühmt-berüchtigt als Dichter, der seine eigenen Werke verbrennt und mit dieser Ästhetik der Entsagung die konzeptuelle Radikalität der Wiener Gruppe auf die Spitze treibt.
Die Gegensätze zwischen dem 1930 in Hannover geborenen Schweizer Dieter Roth und dem fünf Jahre später in Wien geborenen Dichter konnten Mitte der Sechzigerjahre kaum größer sein. Wiener schreibt später, dass er damals eine schlechte Chance gehabt hatte, eine „komplizierte Wahrnehmung“ an dem armselig wirkenden Roth zu machen, der zwischen Island und den Städten Mitteleuropas pendelte. In der Schweiz hatte Roth in den Fünfzigerjahren nach einer Lehre als Druckgrafiker seinen Unterhalt mit Gelegenheitsarbeiten auf dem Bau verdient. Er schreibt Gedichte, notiert unaufhörlich in seine Tagebücher und hält sich mühselig über Wasser. 1957 heiratet er in Reykjavík die isländische Studentin Sigrídur Björnsdóttir, die mit Zeichenunterricht auch seinen Lebensunterhalt bestreitet. Ihm selbst wird die Aufnahme in den isländischen Grafikverband verweigert.
Einen Koffer mit „unverkäuflicher“ Kunst soll Roth bei sich gehabt haben, als er Wiener zum ersten Mal begegnet. Der österreichische Schriftsteller schlägt ihm zur Begrüßung auf die Brust und nennt den Mittdreißiger einen „alten Trottel“. Nachzulesen ist diese erste Begegnung in einem Buch, das Wiener wenige Jahre später mit den frühen Schriften und Zeichnungen Roths herausgibt. Das Buch ist ein Zeugnis der konstruktiven Poetik Wieners, in dem die erwähnten Grobheiten zu Bausteinen einer ehrgeizigen Vermittlungsanstrengung der sperrigen Kunst Roths werde. Die Darstellung ist brillant, denn der wortreiche Wiener erstickt das Werk nicht in einem Netz von Begriffen, sondern er arbeitet konsequent die Nichtvermittelbarkeit Roths mit modischen Tendenzen heraus. Der „Trottel“ wird so zu einem unzähmbaren Widerspenstigen, an dem die ihn abbildenden Spiegel zersplittern.
Als das von Wiener herausgegebene Buch 1973 erscheint, hat Roth bereits dreihundert Grafiken, zirka 67 Bände mit Gedichten und Schriften, zahlreiche Materialbilder und -objekte aus Schokolade, Hasenmist, Vogelfutter, Wurstscheiben und Gewürzen geschaffen. Der Titel des Buches lautet „Frühe Schriften und typische Scheiße“. Der Titel „Scheiße“ ist den zuvor veröffentlichten Gedichtsammlungen Roths entnommen, und Wiener bezeichnet seinen eigenen Kommentar „einen Haufen Teilverdautes“. Zu diesem Zeitpunkt lebt Wiener bereits in Berlin. 1970 hat er Österreich nach vierwöchiger Untersuchungshaft und Schikane durch österreichische Behörden und Medien verlassen.
„Teilverdaut“ werden in Wieners Kommentar das Werk des Islandpendlers wie auch die Diskrepanz zwischen beiden. Roth produziert ununterbrochen, holt Romane und Erzählungen aus dem Tagebuch und schläft nicht: „vielleicht stört ihn am schlaf die ruhe; jedenfalls ist er verlorene zeit für die produktion, in der er allein sich immer wieder tröstet und repariert. er ist spezialist aus eigener kraft, und sein spezialgebiet ist von dem bereich, von welchem er gar nichts versteht, so schwer zu unterscheiden, weil es derselbe ist.“
Wiener entscheidet sich nach seinem großen Wurf, dem Roman „Verbesserung von Mitteleuropa“, Mathematik zu studieren, und konzentriert sich auf naturwissenschafltiche Erkenntnistheorien. Eine Entscheidung gegen eine materialreiche eigene Produktion und für die Reflexion. Der „Haufen Teilverdautes“ nimmt dabei eine Mittelstellung ein. Wiener entwickelt im Kommentar eine Methode, sich ein Bild von Werk und Person Roths zu schaffen, und markiert zugleich die Beschränktheit seines Vorgehens: „dass ich so gut wie immer irgendwie verstehe, das täuscht mir ähnlichkeit mit dem verstehen der anderen vor: wir tasten uns durch ein labyrinth, das mehr dimensionen hat als unsere vorstellungen, und begegnen einander in den gängen.“
Die Naivität Roths irritiert Wieners Vorstellungen: „er hat gar kein handwerkliches geschick“, schreibt Wiener. „er baut sich möbel, die in ihrer armseligkeit ihresgleichen suchen (wie von einem achtjährigen gebastelt). aber er sagt: diese sogenannt ungeschickten möbel müssen als versuch in ‚scheiße‘ angesehen werden. er hat früher möbel entworfen, die ganz außerordentlich gut gefügt waren, sagt er; für andere leute.“ An anderer Stelle betont Wiener die praktische Sicherheit des Künstlers: „sein handwerkliches geschick ist bemerkenswert, die behändigkeit, mit der er sich im vertrauten gelände bewegt, seine Beherrschung künstlerischer technik(en). er lässt schlamperei zu, aus einsicht, dass man nicht alle dimensionen beherrscht, auch dann nicht, wenn man die ‚unterste ebene‘ des elementaren aufsucht.“
Wiener verfolgt diese Frage, um zu zeigen, dass das Werk seines Freundes jenseits dieser Bewertung liegt. Denn Roth nutzt technischen Fehlgriff und das Missgeschick als Chance: „ein teil der leistung besteht dabei aus dem verzicht auf eigene leistung. was wie ein absichtlicher bruch in vielen seiner arbeiten steht, ist das hineinnehmen von faktoren, derer er sich im augenblick des arbeitens bewusst wird. Er will dem betrachter zwar alles klar machen, denkt jedoch nicht weiter nach. auch stellt er sich fast nie neben sich selbst.“
Ist Roth kompliziert, weil Wiener sich ein kompliziertes Bild von Roths Naivität macht, oder ist die Naivität eine kritische Strategie Roths? Für das Publikum schreibe Roth, dass Kunst die Aufgabe habe, einen Bereich der Freiheit der Vorstellungen gegen technokratisches Reglement zu verteidigen und vielleicht zu erweitern. Aber er selbst erscheint viel komplizierter als die Verhältnisse. Er hält seine Versprechungen, er ist freigebig, großzügig und leidet zugleich darunter.
Der Dreh- und Angelpunkt des Kommentars ist Island, Roths Stützpunkt: „überall findet man island bei Dieter“. Wiener hat dabei nicht Roths Grafiken mit isländischen Motiven wie dem Surtsey-Vulkan vor Augen, sondern zunächst den Gedanken, dass sich jemand schon in den Fünfzigerjahren fort von den europäischen Zentren bewegt und an der Peripherie ansiedelt: „er ist in island wirklich zuhause, das heißt: er denkt wahrscheinlich daran, nach einer verschlechterung aller verhältnisse sonstwo dort zuhause sein zu können. sicher wollte er das feld seiner tätigkeit reduzieren. ende der fünfziger jahre hat er ja nicht sehr viel produziert. jedenfalls schrecken ihn die leute und island ist mehr land als leute, und sogar die dinge hocken dort nicht so aufeinander wie anderswo. er hat wohl beharrlich versucht, dort heimisch zu werden, aber die einfachheit der leute lässt das nicht zu, seine naivität ist sozusagen kompliziert, weil sie aus einer komplizierten umgebung stammt.“
Es kommt im Verlauf der Freundschaft zu Gegenbewegungen. Roth reist nach Berlin, Wiener reist häufiger nach Island. In Berlin veranstalten sie gemeinsam mit Gerhard Rühm, Günter Brus, Friedrich Achleitner Dichterworkshops und Konzerte „selten gehörter Musik“. Ein Ausgangspunkt der Konzerte war die Überlegung, dass die Musik Schönbergs, Stockhausens und Cages eine Musik sei, die erst vom Zuhörer geschaffen werde, der ein gehöriges Maß an Kennerschaft einbringen müsse, um die Musik zu genießen. Die „selten gehörte Musik“ gibt den Zuhörern keine notierten Kompositionen zu Gehör, sondern ihre Interpreten holen aus Instrumenten, die sie nicht beherrschen, ungewohnte Klänge. Der Zuhörer wird aufgefordert, sein Repertoire an musikalischem Verständnis einzusetzen, um die Dürftigkeit der dargebotenen Musik in einen ästhetischen Genuss zu verwandeln.
Solch ein Konzert nehmen Wiener und Roth 1976 in Mosfellsveit auf Island auf und veröffentlichen es unter dem Titel „Tote Rennen“. Im Untertitel sprechen sie von Liedern, tatsächlich zu hören sind Ausschnitte aus einem Gespräch über Gleichnisse und Vorstellungen. Ein Küchenwecker tickt, im Hintergrund übt jemand Boogie-Woogie. Ab und zu kann man einen Klagegesang vernehmen, in dem jemand ruft: Ohh, was ist der Wiener gut! Je nach Argument kann der Ausruf auch lauten: Ooh, was ist der Wiener klug! Oder: Ooh, was ist des Wieners Blut!
Der Wecker, das Tastengezitter des Klaviers und die Ausrufe relativieren das Streitgespräch, das die beiden nach einer durchzechten Nacht führen. Wiener spricht langsam, trotz des Katers bemüht, scharf zu formulieren, Roth rülpst, flucht, warnt und lenkt von den Argumenten ab. Vergeblich eilt Wiener dem ständig Ausweichenden mit einem stringenten Argument hinterher. Zugleich führt er das Gespräch, das dem anderen – der gerade eine Bulette isst, die „scharf wie der Satan schmeckt“ – Chancen der Darstellung bietet.
Wiener hebt an und behauptet, dass in der heutigen Welt größerer gedanklicher Reichtum zu finden sei als früher. Roth hält ihm entgegen, dass das Wort „Reichtum“ zu arm sei, um Wieners Gedankenreichtum mitzuteilen. Will Wiener darlegen, dass technische Entwicklungen wie das Auto oder die Fotografie zu neuen Vorstellungen geführt haben, so sagt Roth, dass zu allen Zeiten die Menschen zwei Augen, zwei Ohren, eine Nase und Haut gehabt haben. Fortschrittsideen leiht er nicht sein Ohr. An sein Ohr dringt nur, dass er und Wiener die gleichen Worte verwenden. Worte seien für ihn wie Geschosse, die durch die Luft pfeifen. Ihre Flugbahn sei zwar jeweils unterschiedlich, sie sind und bleiben aber immer die gleichen Geschosse. Für Wiener sind Worte keine Geschosse, aber auch keine Instrumente, um Konsens herzustellen, sondern Aufforderungen, seine Vorstellungen vom anderen schärfer einzustellen. Dabei interessiert ihn eigentlich nicht, wer der andere nun eigentlich ist, sondern die Frage, wie Vorstellungen und Gedanken überhaupt entstehen.
Später wird Wiener Mitteleuropa verlassen und sich in der kanadischen Wildnis, nahe der Goldgräbersiedlung Dawson City, ansiedeln. Offensichtlich drängt es ihn, weniger Leute und mehr Landschaft um sich zu wissen. Roth stirbt 1998 in Basel. In der Zwischenzeit sendet er von seinen Stützpunkten in Island, Stuttgart und Basel Materialien für einen Teppich an Ingrid Wiener in Dawson City. Der Teppich ist ein Gleichnis der Beziehung zwischen dem Abfallkünstler Dieter Roth und dem Dichter-Theoretiker Oswald Wiener. Schachbrettartig sind dort Flächen mit „tiefen“ und „flachen“ Bildern zu sehen. Roth hat der Künstlerin Plastiktüten aus Island, Bestellzettel und andere grafisch besetzte Dinge als Webvorlagen für das „Flache“ geschickt, während sie selbst Fotografien mit räumlichen Ansichten für die tiefen Abbildungen als Webvorlagen aussuchte.
Wer von beiden – der österreichische Dichter im Exil mit dem schmalen, aber konzeptuell geschliffenen Werk oder der Künstler mit den vierzig Bänden an gesammelten Schriften – der eigentlich Tiefe oder Flache war, ist eine Frage des Standpunktes. Wieners Schriften kann man als Werkzeugkasten betrachten, mit dem die Wahrnehmung für den Totalkünstler Roth geschärft wird, Roths Schaffen kann man als Hintergrund ansehen, vor dem die poetischen Anstrengungen Wieners ihre Kontur als zentraler Beitrag zur zeitgenössischen Ästhetik gewinnen.
NILS RÖLLLER, geboren 1966, ist promovierter Philosoph und arbeitet an der Kunsthochschule für Medien Köln
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