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Nur ein neuer Rohstoff

Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause versucht die isländische Regierung noch schnell eine Bürgschaft für die in der Vergangenheit heftig umstrittene Genforschungsfirma deCODE durchzubringen. Doch nicht einmal deren Wirtschaftsdaten, so belegen US-amerikanische Börsenberichte, verheißen Gutes

von SKÚLI SIGURDSSON

Das Frühjahr in Island ist eine magische Zeit. In Reykjavík kann man den Blick über die Berge schweifen lassen, die schneebedeckt in der Abendsonne glänzen und noch wenige Monate zuvor in der Dunkelheit der langen subarktischen Winternacht verborgen lagen. Auch die Ankunft der Zugvögel aus südlichen Breiten signalisiert den Beginn des Frühlings und den nahenden Sommer. Ende April oder Anfang Mai beginnt dann für das isländische Parlament schon die Sommerpause. Wie weltweit in parlamentarischen Demokratien üblich, ist dies die ideale Zeit, um schnell noch im Parlament Gesetze zu verabschieden, die unter normalen demokratischen Umständen, bei kritischer Betrachtung und eingehender Diskussion, nicht so einfach durchzubringen sind.

Der Frühling 2002 macht da keine Ausnahme. Der Heidlóa, der Goldregenpfeifer, ist aus seinem Winterquartier zurückgekehrt, die Tage werden länger, und Anfang April, knapp nach Ostern, brachte die isländische Regierung den Antrag ein, der Firma deCODE Genetics eine staatliche Bürgschaft über 200 Millionen Dollar zu gewähren. Es ist die US-Muttergesellschaft der isländischen Firma Íslensk erfdagreining, eines von Kontroversen umwitterten Biotechnologieunternehmens, das die genetischen Ursachen häufiger Krankheiten erforscht.

Gemäß einer kürzlichen Presseverlautbarung des isländischen Finanzministeriums soll die staatliche Bürgschaft der Firma deCODE den Einstieg in die Entwicklung neuer Medikamente ermöglichen, damit sie ihre Forschungsergebnisse im Feld der Humangenetik umsetzen beziehungsweise vermarkten und ihre Wettbewerbsvorteile absichern kann. Hierbei wurde auf die bahnbrechenden wissenschaftlichen Errungenschaften der Firma deCODE verwiesen. Diese Behauptungen entbehren jedoch der Grundlagen.

Grundlagen für die ökonomische Beurteilung von deCODE gibt es jedoch durchaus, und zwar in Übersee: in den Akten der Börsenaufsichtsbehörde SEC (Securities and Exchange Commission) in Washington DC. Diese Regierungsbehörde wurde nach dem Börsenkrach von 1929 gegründet und soll die US-Börsen regulieren. Im Sommer 2000 – vor dem Ende der Hochkonjunktur von dot.com- und Biotechnologie – machte deCODE einen erfolgreichen Börsengang auf der Hochtechnologiebörse Nasdaq.

Um die Kapitalanleger zu schützen und ihre Kreditwürdigkeit zu behaupten, muss die Aktiengesellschaft deCODE die Börsenaufsichtsbehörde SEC regelmäßig mit Performance-Daten beliefern. Der Bericht für das Finanzjahr 2001 ist gemäß den Vorschriften der SEC veröffentlicht und auf deren Webseite einsehbar. Dieser Bericht (der in der Parlamentsdebatte um die isländische Bürgschaft keine Erwähnung fand) setzt die wissenschaftlichen Erfolge der Firma deCODE ins kalte Licht ökonomischer Fakten.

Die Firma deCODE wurde Ende 1996 gegründet und zwar mit zwölf Millionen Dollar, die von US-amerikanischen Risikokapitalanlegern zur Verfügung gestellt wurden. Im Februar 1998 wurde ein Fünfjahres-Forschungs-Übereinkommen mit dem Schweizer Pharmariesen Hoffmann-La Roche unterschrieben – potenzieller Wert: 200 Millionen Dollar. Im SEC-Bericht für 2000 heißt es seitens deCODE: „Vereinbart wurde, dass wir etwa 70 Millionen Dollar für die Forschungsbetriebskosten erhalten und erfolgsbedingt weitere 130 Millionen Dollar im Zuge der Verwertung und Vermarktung der Forschungsergebnisse.“ Prüft man den Bericht für das Jahr 2001, so findet man mit einfachem Rechnen heraus, dass bis dato die Firma deCODE von Roche für 1998 12,7 Millionen Dollar erhalten hat und für den Zeitraum 1999 bis 2001 61.628.038 Dollar, insgesamt also eine Summe von 74.328.038 Dollar.

Wenn wir uns vor Augen halten, dass deCODE 70 Millionen Dollar für die Forschungsbetriebskosten bekommen sollte, die von Roche über einen Zeitraum von fünf Jahren verteilt wurden und somit bis dato 56 Millionen Dollar für vier Jahre Grundlagenforschung ergeben, dann verweist die Differenz von 74 Millionen Dollar minus 56 Millionen auf die vermarktbaren wissenschaftlichen Leistungen der Firma deCODE, nämlich auf einen Betrag von 18 Millionen Dollar oder 4,5 Millionen jährlich.

Auf der Basis so magerer wissenschaftlicher Leistungen im vermarktbaren Wert von 18 Millionen Dollar ist die isländische Regierung zu einer Millionenbürgschaft bereit. Der neue parlamentarische Antrag provozierte scharfe Kritik von Seiten des isländischen Finanz- und Wirtschaftssektors: Durch diese Bürgschaft würden die Interessen einer einzelnen Gesellschaft begünstigt, die Wettbewerbssituation verzerrt und der isländische Staat finanziellen Risiken ausgesetzt.

Die Tatsache, dass diese staatliche Bürgschaft überhaupt notwendig wurde, macht eines deutlich, dass nämlich deCODE nicht in der Lage ist, weiter Anlegerkapital am internationalen Markt anzuziehen. Die US-amerikanischen Risikokapitalgeber, die 1996 das Grundkapital für deCODE lieferten, haben ihr Geld 1999 zurückbekommen. Die Roche-Verbindung hat für deCODE nur ein Drittel der 1998 versprochenen 200 Millionen Dollar abgeworfen. Es scheint, dass Roche nicht mit derselben Finanzkraft weiterfahren wird, und vermutlich stammt ein Großteil der 180 Millionen, die von deCODE auf der Nasdaq im Juli 2000 in Anschlag gebracht werden konnten, von isländischen KapitalanlegerInnen.

Mit über fünfhundert Mitarbeitern, schwachen wissenschaftlichen Leistungen und sehr hohen Betriebskosten wird deCODE bald mit der ökonomischen Realität konfrontiert werden. Der Rückschlag hiervon könnte schwere Folgen für Island und die Regierungskoalition unter Premierminister Davíd Oddsson haben. Da die Regierung stets deCODE unterstützt hat, ist es nicht verwunderlich, dass der Antrag auf staatliche Bürgschaft jetzt im Frühjahr gestellt wurde. Ohne Zweifel glaubt die Regierung, dass sie vernünftig und im besten Landesinteresse handelt, indem sie deCODE bevorzugt behandelt – in der Hoffnung, einen neuen Industriezweig auf die Beine zu stellen.

Ein solches Glaubenssystem konnte nur deshalb jahrelang aufrechterhalten werden, weil zwischen deCODE, der Regierung, der öffentlichen Verwaltung und den isländischen Medien enge Beziehungen bestanden. Hierdurch blieb dieses System von schonungsloser Kritik und Nachrichten über die schnell kleiner werdenden wirtschaflichen Erträge der Biotechnologieunternehmen wie Celera oder deCODE verschont. Diese Unternehmen hofften, auf der Welle der überzogenen Versprechen des Human Genome Projekts mitzureiten. Erst jetzt, im Frühjahr 2002, ist ersichtlich, dass die Symbiose zwischen deCODE und der isländischen Regierung Ermüdungserscheinungen zeigt, wie auch die politischen Kosten, verbunden mit den überzogenen Erwartungen, offenbar werden.

Die Bindung zwischen deCODE und der Regierung, zwischen Premier Oddsson und Dr. Kári Stefánsson, dem Firmengründer und Leiter von deCODE, war bereits 1998 zementiert. Im Zuge des Abkommens zwischen deCODE und Roche wurde dem Parlament ein Gesetzentwurf vorgelegt, der einer unbenannten Firma die Lizenz erteilen würde, eine Datenbank mit den Gesundheitsakten aller Isländer, lebenden wie verstorbenen, auf die Beine zu stellen. The Health Sector Database-Gesetzentwurf (HSD) wurde von deCODE verfasst und der Regierung im September 1997 vorgelegt.

An Ostern des darauf folgenden Jahres wurde dann die Gelegenheit genutzt, um die Zustimmung des Parlaments für den Entwurf zu holen. Nichtsdestoweniger wurde der Entwurf scharf kritisiert, was dazu führte, dass das HSD-Gesetz erst im Dezember 1998 verabschiedet wurde. Der Gesetzentwurf wurde vor allem vom Isländischen Ärtzteverein, von Wissenschaftlern, besorgten Laien, Ethikern und der NGO „Mannvernd“ (www.mannvernd.is) angefochten. Die zentralen Merkmale der bis heute anhaltenden Kontroverse sind die enge Verbindung zwischen deCODE und der Regierung, deren stete Ablehnung von Gegenargumenten und die Tatsache, dass wissenschaftliche Beratung nur bei Dr. Stefánsson und deCODE-Mitarbeitern eingeholt wurde.

Die massive internationale Aufmerksamkeit für das Projekt hat die Annahme der Regierung unterminiert, dass die Sache „unter uns“, innerhalb der Grenzen von Island, bleiben konnte. Dass dies nicht gelang, belegt schon die Tatsache, dass die SEC-Website zur besten Informationsquelle über die Arbeit und die Versprechen von deCODE wurde. Im Jahr 1998 lobte Dr. Stefánsson in höchsten Tönen die verheißungsvollen Aussichten der Gesundheitsdatenbank – die jedoch bis zum heutigen Tag nicht existiert. Nunmehr verspricht er große Entdeckungen auf dem Gebiet der Pharmaentwicklung. Wovon er nicht redet, ist die Tatsache, dass deCODE von Roche in die Pflicht genommen worden ist, den Pharmakonzern mit Blutproben zu beliefern – für fünfzig Dollar pro Einheit.

Die Proben werden „geerntet“, so die Formulierung im neuen Jahresbericht für die SEC, von den 60.000 Isländern (von insgesamt 286.000), die an deCODES bisherigen Forschungen zu verbreiteten Krankheiten teilgenommen haben. Sie haben ernsthaft geglaubt, sie leisteten einen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt. Aber wie der Kabeljau und der Hering, die vor der Küste in den eisigen Wässern des Nordatlantiks schwimmen, sind sie bloß zu einer neuen Art Rohstoff geworden.

Aus dem Englischen von MONA SINGERSKÚLI SIGURDSSON, geboren 1958, ist promovierter Wissenschaftshistoriker. Er wohnt und arbeitet in Berlin und Reykjavík. Zurzeit unterrichtet er an der Universität von Reykjavík

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