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Die Macht der Worte

Sag es laut, sag es komplex: John Edgar Wideman schreibt über Gewalt und Rassismus, auch in seinem neuen Roman „Schwarzes Blut“. Ein Porträt

„Das macht das Leben doch interessant: dass du nie lange am selben Platz stehst.“

von CHRISTIANE KÜHL

Als Junge hat er Zeitungen ausgetragen. Mit einem alten Fahrrad und einem großen Packen der Pittsburgh Post-Gazette fuhr John Edgar Wideman jeden Morgen Negley Avenue Hill hinauf. Für andere mochte das aussehen wie das Erklimmen eines städtischen Hügels; für John Edgar Wideman war es eine Reise in eine andere Welt. Dort oben waren die Häuser aus Stein. Sie hatten geschwungene Auffahrten, Garagen und Vorgärten, immense Vorgärten, die sauberer waren als viele ihm bekannte Wohnzimmer. Es war beängstigend. John Edgar Wideman musste pfeifen oder in seinem Kopf laut singen, wenn er die Zeitungen für die Weißen austrug. Die Drifters, die Spaniels, die Miracles dienten ihm als Schutzschild im Fünfzigerjahre-Reich der White Anglo-Saxons. Dass die schwarze Musik auch Waffe sein könnte, schrieb er später einmal, habe er damals nicht artikulieren können, aber doch geahnt: Weshalb sonst wohl habe er zwischen diesen Häusern nie laut heraus gesungen, wenn er nicht gespürt habe, dass die in den Songs vorgeschlagene Realität die Steine hätte hinwegfegen können?

„Meine Faszination für Sprache“, erklärt Wideman an einem kalten, klaren Morgen in einem griechischen Diner auf Manhattans Lower East Side, „hat mit ihrer Macht zu tun. Mit der Macht des Geschichtenerzählens. Das beginnt mit den Gründungsgeschichten: Jede Gruppe von Menschen kreiert einen Mythos über ihre Identität, über ihre Herkunft und ihr Recht, auf dieser Erde zu sein. Das geschieht in Form von Geschichten. Manchmal werden diese Geschichten getanzt, manchmal gemalt, manchmal getragen in Form von Kleidung – aber meistens sind es Worte. Worte etablieren die Einzigartigkeit einer Gruppe, und sie sind das Mittel, diese weiterzugeben. Eine ungeheuerliche Macht. Und Verantwortung.“

Mehr als zwei Dutzend Bücher hat John Edgar Wideman veröffentlicht, Romane, Kurzgeschichten, autobiografische Abhandlungen sowie Anthologien afrikanischer und afroamerikanischer Literatur. Angefangen vom ersten Roman „A Glance away“ 1967 bis zu „Hoop Roots“ aus dem letztem Jahr, einer Art literarischen Meditation über Basketball und seine Bedingungen, hat seine Prosa immer wieder mit Homewood zu tun, jenem Schwarzenghetto in Pittsburgh, wo Wideman aufwuchs. Gewalt, Rassismus und (Gruppen-)Identität werden zwangsläufig thematisiert.

Mit Heimatdichtung hat das so wenig zu tun wie mit Protestprosa; Identifikationsangebote im größeren Maßstab bieten Widemans Werke nicht. Zu komplex ist die Prosa, fast sperrig ihre Konstruktion. Seine Stream-of-Consciousness-Technik verleitete die New York Times schon 1967 zum Vergleich mit James Joyce. Wobei sie bei Wideman, einem Verächter jeglicher Anführungszeichen, durch das afrikanische „Great Time“-Konzept erweitert wird, das es Nelson Mandela problemlos ermöglicht, in einer Novelle im 18. Jahrhundert aufzutauchen.

Wideman sei „nicht nur ein genialer Geschichtenerzähler“, schrieb die New York Times kürzlich über den Afroamerikaner, der als einziger Autor zweimal mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichnet wurde, „er ist einer der seltenen Schriftsteller, die fähig sind, eine Form neu zu erfinden und zu ihrer eigenen zu machen.“ Viel Lob von höchster Stelle – doch hohe Auflagen hat sein Werk in Amerika nicht.

Wideman überrascht das nicht. Was sich an schwarzer Literatur gut verkaufe, sagt er bitter, seien „neo slave narratives“; Geschichten, die entweder von den alten Sklaventagen erzählen oder von Musik und Basketball, gerne auch mal vom armen Kid aus dem Ghetto, das es ganz nach oben schafft. Das seien die Themen, die man Schwarzen zubillige, vor allem, da sie das herrschende amerikanische Weltbild bestätigten: Die Sklaverei ist vorbei, Musik und Baseball sind die Bereiche schwarzer Selbstverwirklichung, und wer es will, schafft es heute natürlich, das Ghetto hinter sich zu lassen.

„Diese Vorliebe hat mit der amerikanischen Gründungsgeschichte zu tun, die auf den Begriffen Freiheit und Gleichheit baut. Ihretwegen diskutieren wir nicht wirklich Klasse, Rasse und Gender: Man könnte auf Dinge kommen, die dem Gründungsmythos widersprechen. Er aber definiert unsere Identität. Wenn man diesen Mythos aufgibt, gibt man sich selbst auf.“ Und um ebendies nicht geschehen zu lassen, so der 60-Jährige, dominiere in Amerika bis heute jene schizophrene Geisteshaltung des 18. Jahrhunderts, mit der die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde, während die Hälfte der amerikanischen Industrie durch Sklaven finanziert wurde.

„Schwarzes Blut“, ein Roman aus dem Jahr 1996, der jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, spielt während der Gelbfieberepidemie des späten 18. Jahrhunderts in Pennsylvania. Für die weiße Bevölkerung handelt es sich um eine Heimsuchung: Man macht die importierten afrikanischen Xhosa für die fremde Seuche verantwortlich. Der Roman folgt im Wesentlichen einem schwarzen, epileptischen Wanderprediger, der seine Erinnerungen und Visionen einer nicht klar zu identifizierenden Frau mitteilt. Es könnte das Phantom jener Frau sein, deren Selbstmord er beobachtete, es könnte jene sein, an deren Sterbebett er später ausharrt – es könnte auch sein, dass diese beiden ein und dieselbe sind.

Vermischt wird die nichtlineare Erzählung mit den Gedanken jener Menschen, die er trifft, unter anderem mit dem Bericht eines weißen Arztes und den Tagebuchaufzeichnungen von dessen Frau. Der Wechsel der Identität des personalen Erzählers wird dabei nicht einmal durch Absätze angedeutet. Erst im Verlauf einer Beschreibung kann der Leser erschließen, welche Figur spricht, was – wenn er merkt, dass er im Geiste einer „falschen“ Figur gefolgt ist – immer wieder zu aufschlussreichen Re-Interpretationen führt.

„Das macht das Leben doch interessant: dass du nie lange am selben Platz stehst. Dass du permanent in Bewegung bist.“ Es ist neun Uhr morgens, Samstag, der Diner füllt sich langsam. Familien werden Berge von Pancakes serviert, Männer in Holzfällerhemden warten an der Theke auf Eier mit Speck. Wideman sucht den Kellner, um sich die Kaffeetasse wieder auffüllen zu lassen. „Zum Beispiel in Gesprächen: Manchmal bin ich sehr bei mir, aber dann wechselt der Fokus und plötzlich sehe ich mich an der Stelle meines Gegenübers, mich anschauend, über mich nachdenkend.“ Der Kellner schenkt Kaffee nach. Draußen fährt ein Auto mit Sirene vorbei. „Oder ich höre eine Sirene und denke: Wo brennt es? Wenn ich schreibe, habe ich eine Szene mit zwei, drei Personen im Kopf, aber wer oder was immer sonst noch vorbeikommt, wird integriert. Ich mache Platz: für die Sirene, die Erinnerung an meinen Großvater, eine fremde Stimme.“

Der Originaltitel des Romans, „The Cattle Killing“ („Das Rinderschlachten“), bezieht sich auf eine afrikanische Legende, die im Buch als Parabel fungiert. Eine Prophetin empfahl den Xhosa einst, ihren gesamten Rinderbestand zu töten, um durch das Opfer eine neue, freie Welt ohne Europäer zu erlangen. Die Xhosa gehorchten. Aber nun, was soll man sagen – die Stimme hatte gelogen. Und das Volk, das sein Wesentliches für ein falsches Versprechen getötet hatte, musste selbst dran glauben. Der Erzähler, der diese Legende erinnert, ist gewarnt: „Schlaf nicht ein in dem Traum deines Feindes.“

Zu viele sind eingeschlafen. Wideman ruckt seinen Kapuzenpulli zurecht und setzt ein falsches Grinsen auf. „Also jemand sagt dir: Geh auf diese Schule und du wirst Teil dieser wunderbaren Gesellschaft.“ Das Lächeln verschwindet. „Und wir schlafen ein in diesem Traum. Einige von uns schaffen es auch durchs College, einige wenige kriegen gute Jobs. Und dann? Dann merken wir, dass das System noch genau das gleiche wie vorher ist.“ Im fremden Traum schrieben schwarze Schriftsteller populäre „neo slave narratives“, ließen sich schwarze Mode und Musik vom Mainstream ausbluten.

Ironischerweise liest sich Widemans eigene Biografie wie eine Geschichte, die er bestimmt nicht lesen wollte: Aufgewachsen in Homewood, schaffte es der Arbeitersohn als Erster seiner Familie auf die Universität von Pittsburgh und 1963 sogar mit einem Stipendium für ein Philosophiestudium nach Oxford. Er heiratete eine Weiße, wurde ein erfolgreicher Basketballer, Preisträger verschiedener literarischer Auszeichnungen, Professor für afroamerikanische Literatur sowie Creative Writing und Ehrendoktor an drei amerikanischen beziehungsweise europäischen Universitäten – während sein Bruder Robert wegen bewaffneten Raubüberfalls lebenslänglich hinter Gittern sitzt. Ihre Verwandtschaft hat er 1985 in dem autobiografischen „Brothers and Keepers“ untersucht, das 2003 bei Claassen auf Deutsch erscheinen soll.

Vor 12 Jahren geschah dann das ganz Ungeheuerliche: Sein eigener Sohn, damals 16, erstach in einem Ferienlager seinen Zimmergenossen. Die Tochter hingegen studiert Jura an der New York University. Wie er diese Welten in seinem Kopf synchronisieren kann? Oh, sagt Wideman trocken, das sind die drei Angelegenheiten, in denen man beim Aufwachsen als Afroamerikaner genügend Erfahrungen sammeln kann: Trennung, Absurdität und Nichtübereinstimmung.

John Edgar Wideman: „Schwarzes Blut“. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. Claassen 2002, 255 Seiten, 19 €

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