: Schweigen ist das Schlimmste
Damals hatte es einen politischen Mord gegeben, jetzt gibt es auch einen: Rückkehr nach Barrancabermeja, nach beinahe zehn Jahren. Noch immer lebt und stirbt man hier direkt neben der Raffinerie. Ein Bericht aus dem Alltag in Kolumbiens Erdölstadt
von RAUL ZELIK
Halb sechs. Wenn sich die Ventilatoren an der Decke nicht mehr drehen, wird es überraschend still im Schlafsaal. Ich hebe den Kopf: Niemand bewegt sich, der Raum ist in trübes, graues Licht getaucht. Nur Enrique Benito telefoniert ein paar Meter weiter. Er redet von einem Mann, „klein“, sagt er, „Ende 30, mit Schnurrbart, er sollte den Raffineriebesuch für uns organisieren“. Und dann: „Gloria hat es mir gesagt, sie hat gerade angerufen.“ Ich weiß nicht, warum er von diesem Mann, einem Erdölgewerkschafter, spricht; ich weiß nur, dass es nicht normal ist, um diese Uhrzeit zu telefonieren. Ich richte mich auf, es ist so leise, wenn sich die Ventilatoren nicht mehr drehen. Enrique Benito verabschiedet sich am Telefon: „Ruf mich später noch mal an.“ Bedrückende Vorahnung, ich betrachte meine Haut. In dieser Stadt kann man halb nackt und ohne Decke schlafen, ohne zu frieren. Ich mag das, ich mag vieles an dieser Stadt: ihre Hitze, die angespannte Gelassenheit auf den Straßen, den Blick auf den Fluss. Auf bizarre Weise hänge ich an ihr; obwohl sie mir Angst macht, eigentlich immer.
Ich schaue Enrique Benito an. Der Kolumbianer hockt mit nacktem Oberkörper auf der dünnen Schaumstoffmatratze und starrt in den Raum. Ich stehe auf, um gute Laune zu simulieren. „Na, was los? Kommst du nicht auf die Beine?“ Doch Enrique Benito ist nicht müde. Enrique Benito ist hellwach. Endlich sagt er etwas: „Sie haben Rafael erschossen. Den Kollegen, der gestern hier war.“
Rafael, denke ich, wir haben uns am Vortag unterhalten. Ich habe ihm erzählt, dass ich immer noch an Barrancabermeja hänge, dass ich ein Buch geschrieben habe, das hier spielt, und er hat vom Zustand der Gewerkschaft erzählt – drei Jahre nach Beginn der Offensive der Armee. Ein paar Stunden nach unserem Treffen haben sie ihn erschossen. Ich fühle mich leer, in solchen Augenblicken spüre ich nichts außer einer widerlichen Gleichgültigkeit. Stattdessen suche ich nach Rationalisierungen: „Wann? Wo? Wer?“
Warum, frage ich nicht.
***
Auf normalen Lateinamerika-Karten ist Barrancabermeja nur ein Punkt. Eine spät gegründete Erdölstadt: 350.000 Einwohner, Standort der größten kolumbianischen Raffinerie, Gewerkschaftsbastion. Ich kam 1989 zum ersten Mal hierher. Es war die Zeit, als die Armee mit der Säuberung der Region begann. Die Leute, die die Massaker in den Dörfern überlebten, flohen nach Barrancabermeja, denn die Stadt schien wie eine Trutzburg zu sein. Eine Ortschaft in den Händen der sozialen Organisationen. Es gab auch damals Morde – fast jede Woche war ein Name in den Zeitungen abgedruckt. Doch man konnte darüber hinweglesen. Ich selbst las bis zum 30. April 1989 darüber hinweg. An jenem Tag töteten die Todesschwadronen eine Frau, die ich aus dem Flüchtlingslager kannte. Einen Menschen, mit dem ich gesprochen hatte, dem ich ein Gesicht zuordnen konnte. Und es war wie diesmal: Ich erschrak und blieb ungerührt. Als ob mir alles egal wäre.
Wir brachten die Tote auf denkwürdige Weise unter die Erde. Eingeschüchtert, feierlich, kämpferisch, verwirrt, größenwahnsinnig – alles innerhalb weniger Stunden. Ich erinnere mich genau: Wir gingen zur 1.-Mai-Demonstration, tranken zwischendrin auf einer Gewerkschaftsfeier Bier und liefen auf der Beerdigung vor Schüssen davon, die sich als harmlos herausstellten. Seitdem hänge ich an Barrancabermeja, ich habe hier Dinge kennen gelernt, die ich sonst für Worthülsen halte: Würde, Solidarität, Schönheit des Lebens.
Und deshalb habe ich mich auch sofort wieder heimisch gefühlt, als ich jetzt im März ankam – zum ersten Mal nach fast zehn Jahren. Als wir aus dem klimagekühlten Bus stiegen, die Straße zum Büro der Organización Feminina Popular hinuntergingen und der Schweißfilm schon nach wenigen Schritten wieder auf der Haut zu kleben begann.
***
Gegen halb acht verlassen wir unsere Unterkunft, das Haus der Frauenorganisation. Wir gehen Richtung Gewerkschaftsgebäude. Die Wände der Wohnhäuser sind mit Pilzflecken übersät, die Feuchtigkeit zerfrisst jede Mauer. Auf der Straßenseite gegenüber sitzt eine ältere Schwarze im Schaukelstuhl und genießt die Morgenfrische, 27 Grad, aus einem offenen Fenster hallt Merengue herüber. Ich suche die Augen von Enrique Benito. Er hat die Nunca-Mas-Berichte redigiert, in denen die Kriegsverbrechen von Armee und Paramilitärs aufgeführt werden und auf diese Weise tausende von Morden studiert. Trotzdem nimmt ihn jeder Tote immer noch mit. Ich frage mich, wie er das aushält. Und ich denke, dass das Aufeinandertreffen mit ihm zu jenen seltsamen Begegnungen gehört, bei denen einem ein Mensch innerhalb weniger Tage ans Herz wächst, auf die man sich aber trotzdem nicht einlässt, weil man Angst hat, den anderen nicht wiederzusehen. Die Möglichkeit des Verlustes lässt einen vor Nähe zurückschrecken.
Von der Hauptstraße aus sehen wir, Richtung Nordwesten, die Erdölfackeln am Morgenhimmel, die gigantischen Umrisse der Raffinerie – Metallrohre, Ventile, Tanks, so weit das Auge reicht. Diese Stadt, in der es kein richtiges Kino, keine vernünftigen Telefonverbindungen, keinen Buchladen gibt, erscheint mir schöner als jede andere, die ich gesehen habe. Ich weiß nicht warum: wegen der Raffinerie, den Mangobäumen am Straßenrand, den bewachsenen Lagunen um das Militärbataillon. Vielleicht aber auch deswegen, weil Barrancabermeja Klarheiten vermittelt, nach denen man anderswo nur sucht. Weil die Stadt Lebensentwürfe zurechtrückt, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen vermag.
Wir gehen die 18. Carrera hinunter – achtspurig, eigentlich überdimensioniert für die Stadt. Jemand von uns Deutschen versucht sich in Galgenhumor. Am Tag zuvor haben wir Flüchtlinge getroffen, die zum zweiten Mal in zehn Jahren vertrieben worden sind, diesmal aus ihren Häusern in Barrancabermeja. Von den Geschichten, die sie erzählten, ist in Zeitungen nichts zu lesen. Sie sprachen nicht von Entführungen, Anschlägen, einem hilflosen, zwischen den Extremen zerriebenen Staat. Ihre Berichte handelten von Armeeeinheiten, die sich als Paramilitärs ausgeben, um Massaker zu verüben, von Kleinbauern, die vertrieben werden, weil man auf ihrem Land Bodenschätze vermutet, von Gewerkschaftern bei Coca-Cola, die verfolgt werden, weil sich die Unternehmen einer aufsässigen Belegschaftsvertretung entledigen möchten. Nach einem Tag mit vier oder fünf solcher Treffen flüchtet man sich bereitwillig in zynische Distanz.
Wir erreichen das Gewerkschaftsgebäude: vier Stockwerke, davor eine Menschenansammlung. „Am schlimmsten“, sagt Enrique Benito, „ist die Straflosigkeit.“ In Barrancabermeja wurden im vergangenen Jahr mehr als 500 Oppositionelle ermordet, kein einziger Fall wurde gesühnt. Ich betrachte die Menge, die meisten Anwesenden sind Männer mit kleinen Bäuchen: Erdölarbeiter. Vor 13 Jahren stand unsere Versammlung ein paar hundert Meter weiter unten, Richtung Raffinerie, am Parque Camilo Torres. Auch damals schwiegen wir. Doch nach einiger Zeit kippte die Stimmung. Ein paar Oberschüler enthüllten in der Nähe des Platzes ein Wandgemälde, und in der Menge blitzte Zuversicht auf. Diesmal erhebt niemand seine Stimme, und ich denke, dass Enrique Benito im Unrecht ist. Das Schlimmste ist nicht die Straflosigkeit, das Schlimmste ist das Schweigen. Die Ohnmacht, wenn man Nachrichten hört, die nichts, aber auch gar nichts mit den eigenen Beobachtungen zu tun haben. Die Erkenntnis, dass das Reden über die Wirklichkeit, die Nachricht, die Information in der Kriegsführung immer wichtiger werden und wie wenig man dagegen in der Hand hat. In solchen Augenblicken wanke ich immer zwischen der Wut über die herrschende Ignoranz und dem Zweifel, ob ich nicht längst verrückt geworden bin. Eine Wahrheit, mit der man allein ist, stellt sich auch nicht anders dar als eine Halluzination.
Der Leichnam Rafael Jaimes Torras ist im Erdgeschoss des Gewerkschaftsgebäudes aufgebahrt. Das Bestattungsunternehmen hat ganze Arbeit geleistet, es hat das durch einen Schuss zerfetzte Gesicht zusammengeflickt. Nur ein heller Hautlappen unterhalb des linken Auges deutet auf das Einschussloch hin. Wir betrachten die Wände, an denen die Gemälde der Ermordeten hängen, es ist nicht mehr viel Platz. Um den Sarg stehen Angehörige, Gewerkschafter, die Frauen der OFP, und man spürt, dass ihr Schweigen nicht nur eines des Schreckens, sondern auch der Hilflosigkeit ist. Zwar weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand, dass das nächste Opfer der Todesschwadronen der Tanzlehrer der OFP sein wird, aber alle wissen, dass es ein nächstes Opfer geben und es aus diesen Reihen kommen wird.
Ich betrachte das Gesicht Rafael Jaimes’ durch das Glasfenster. Die Haut sieht unwirklich grau aus, aber das ist normal: Man tut sich immer schwer, das Aussehen von einem Toten und die Erinnerung an den Lebenden zusammenzubringen. Ich denke, ich sollte heulen. Aber ich kann nicht heulen. Der Gewerkschaftspräsident Hernández kommt mit seinen Leibwächtern vorbei. Er ist der Einzige in dieser Runde, der keinen Bauch vor sich herträgt. Jemand sagt, das liege daran, dass er Magenkrebs hatte, wegen der Anspannung. Man habe ihn in Kuba operiert, nun ist er schlank, zäh, beinahe sportlich. „Da war die Gastritis doch noch für irgendwas gut.“ Ich lache nicht, ich höre die Angehörigen weinen. Draußen, einen halben Block weiter, gehen Polizisten mit Knüppeln und Schildern in Stellung. Damit man auch wirklich begreift, wie das alles gemeint ist. Ich versuche einen Punkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu fixieren und mich daran festzuhalten. Aber ich finde keinen.
Es ist seltsam. Ich sehe diesen Sarg, mir ist schwindlig, die Ohnmacht fällt über uns her wie eine Krankheit, und trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich nie hier hätte weggehen sollen. Dass das hier ein Ort ist, wo es richtig ist zu leben.
Raul Zelik ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher „La Negra“ und „Grenzgängerbeatz“
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