Lionel Jospin nutzte seine Chance nicht

Eine breite linke Bewegung verhalf 1997 dem Premier zum Wahlsieg, jetzt verzichtete er ausdrücklich auf ein sozialistisches Programm

PARIS taz ■ Die Post-Jospin-Ära hat bereits begonnen. Nach seinem historischen Scheitern bei den Präsidentschaftswahlen zog der Regierungschef Frankreichs noch am Sonntagabend die Konsequenz: Er kündigte seinen „Ausstieg aus der Politik“ an. Nicht einmal bis zu den Parlamentswahlen im Juni will er die Geschäfte führen. Jospin, der jahrelang als der erfolgreichste unter den Sozialdemokraten Europas galt, tritt zurück, sobald der neue Präsident gewählt ist. Am 5. Mai.

Mit seinen 16 Prozent liegt Jospin 7 Prozent unter dem Ergebnis des ersten Wahlgangs 1995, und damals hatte er als Outsider und in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannter Sozialist kandidiert. Katastrophal ist aber auch das Abschneiden der anderen Mitglieder der von Jospin geführten rot-rosa-grünen Regierung. Den höchsten Preis für ihre Regierungsbeteiligung zahlt die KPF. Mit 3,4 Prozent steht sie jetzt politisch vor dem Aus. Und auch die Grünen blieben hinter den Erwartungen zurück – obwohl sie sich mit gut 5 Prozent für ihren Kandidaten Noël Mamère im Gegensatz zu den letzten Präsidentschaftswahlen verbessern konnten.

Sämtliche kleinen linken Regierungsmitglieder werden links von trotzkistischen Kandidaten überholt, die aus dem Abseits kamen, gemeinsam aber über 10 Prozent der Stimmen gewannen. Ihre Chance lag in der negativen Bilanz der Regierung. Zu ihrem Erfolg trug auch bei, dass Jospin in diesem Wahlkampf kein sozialistisches Programm hatte – und dies auch ausdrücklich erklärte.

Der Sieg der Sozialisten war die Überraschung der Parlamentswahlen von 1997, als Staatspräsident Chirac ohne Not das Parlament vorzeitig auflöste. Vorausgegangen war die seit 1968 größte Streikbewegung, zugleich hatte sich damals eine breite gesellschaftliche Bewegung zur Unterstützung der papierlosen Immigranten gebildet. Die Mehrheit der Linken war damals so groß, dass sie ihre politischen Vorhaben problemlos hätte umsetzen können. Die Sozialisten hatten im Wahlkampf nicht nur eine radikale Arbeitszeitverkürzung, sondern auch die Abschaffung der repressiven Einwanderungsgesetzes versprochen. Doch daraus wurden nach dem Machtantritt halbherzige Reformen.

Statt alle Sans Papiers grundsätzlich anzuerkennen, wurde dem einen der Aufentwalt gewährt, dem anderen dagegen nicht. Das Problem der illegalen Einwanderung wurde durch diese Reform eher verschärft denn gelöst. Zugleich brachte die Einführung der 35-Stunden-Woche eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit sich, vor allem auf Kosten der Niedriglohnbezieher.

Erschwerend kam hinzu, dass unter der rot-rosa-grünen Regierung mehr Staatsunternehmen privatisiert wurden als unter mehreren vorausgegangenen konservativen Regierungen zusammen. Den Anhängern der Linken missfiel auch, dass „ihre“ Regierung die rasante Zunahme von Massenentlassungen und der Abwanderung von Unternehmen in Billiglohnländer nicht verhindern konnte. Schließlich erwarete die französische Linke eine linke EU-Politik. Doch Jospin, der 1997 im Wahlkampf angekündigt hatte, er werden den Stabilitätspakt „nicht“ unterzeichnen, vollzog dies schon kurz nach Amtsantritt. Auch der Forderung nach Erhalt des öffentlichen Dienstes folgte er nicht.

In den ersten Jahren der Jospin-Regierung sank die Arbeitslosigkeit um 3 Prozent. Doch seit vorigem Mai steigt sie wieder. Gleichzeitig nimmt die Zahl der schlecht bezahlten Jobs zu. Diese soziale Bilanz bewirkte, dass viele einstige Wähler und Unterstützer „ihrem“ Kandidaten den Rücken kehrten. Entweder sie wählten linksradikal. Oder sie gingen gar nicht erst an die Urne. 28 Prozent Enthaltungen – auch das ist in Frankreich einsamer Rekord. DOROTHEA HAHN