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„Was ist das, Negilhan?“

Die Sprachkompetenz von Kindern lässt sich innerhalb eines Jahres um bis zu 40 Prozent steigern. Das zeigt ein Modellprojekt in Kreuzberg. Die Kids wurden in Kleingruppen intensiv gefördert

von SABINE AM ORDE

Seit Jahren wird in Berlin über die schlechten Deutschkenntnisse nichtdeutscher Kinder geklagt. Doch wie dem Problem beizukommen ist, darüber herrscht große Ratlosigkeit. Zwar werden in vielen Kindertagesstätten und Schulen Methoden zusammengebastelt und ausprobiert, bislang aber lag kein Konzept vor, wie die Deutschkenntnisse nichtdeutscher Kids gezielt und empirisch nachweisbar verbessert werden können. Ein Modellprojekt zeigt jetzt, dass sich die Sprachkompetenz von Kindern innerhalb eines Jahres um bis zu 40 Prozent steigern lässt, wenn diese in der Kita in Kleingruppen intensiv gefördert werden. Durchschnittlich sind die Deutschkenntnisse der beteiligten Kinder um 20 Prozent angestiegen, heißt es in einer Untersuchung des Instituts für kreative Sprachförderung und interkulturelle Kommunikation, deren Ergebnisse der taz vorliegen.

Sven Walter, Sprachwissenschaftler des Instituts, geht davon aus, dass die Deutschkenntnisse der Kinder in der zweiten Hälfte des zweijährigen Modellprojekts sogar noch einen größeren Sprung machen werden. „Dann sind die Grundlagen gelegt und die Kinder motiviert“, so Walter. Bei einem Kitabesuch ohne spezielle Sprachförderung wüchsen die Deutschkenntnisse um 10 Prozent. „Wir haben das Ergebnis also verdoppelt.“

Der Sprachwissenschaftler hat das Modellprojekt begleitet, das die Gesellschaft für berufsbildende Maßnahmen (GFBM) in zwei bezirklichen Kitas und einer Grundschule in Kreuzberg durchgeführt hat. Die meisten der insgesamt 30 Kinder sind türkischer Herkunft, manche von ihnen sprachen zu Beginn des Projekts kaum ein Wort Deutsch. Bei fast allen bestand intensiver Förderungsbedarf. Das zeigten die Ergebnisse der Sprachstandsmessung „Bärenstark“, mit deren Hilfe zweimal die Deutschkenntnisse der Kinder erhoben wurden: zu Beginn des Projekts und ein Jahr später, im März.

Die Kita Solmsstraße ist Teil des Modellprojekts. Jeden Morgen zwischen 9 und 10 Uhr treffen sich hier fünf Vorschulkinder mit Tina Schenk. Die Betreuerin hat heute wieder kleine Karten mit selbst gemalten Gegenständen darauf mitgebracht. „Was ist das, Mehmet?“, fragt Schenk. „Ein Ei“, antwortet der dunkelhaarige Knirps, „der gehört auf die gelbe Wand“. „Richtig“, lobt Schenk und klebt das Bild auf die gelbe Pappe, „denn Ei ist ein Das-Wort.“ Daneben hängen eine rote und eine blaue Pappe für die weiblichen und männlichen Substantive. „Die Artikel“, sagt Schenk später, „muss man auswendig lernen. Eine Stunde am Tag reicht nicht aus, damit die Kinder von selbst ein Gefühl dafür kriegen.“

Schenk ist eigentlich Heilpraktikerin, seit vielen Jahren aber arbeitet sie in der Sprachförderung. Speziell dafür ist sie als zusätzliche Kraft in die Kita Solmsstraße gekommen. Eine eigene Gruppe hat sie nicht, „ihre Kinder“ verlassen jeweils für eine Stunde täglich ihre eigentlichen Gruppen. Ein Zustand, von dem andere Kitas nur träumen können, normalerweise fehlt für zusätzliche Fachkräfte das Geld.

Der Einsatz von Tina Schenk und ihren drei Kolleginnen kann nur bezahlt werden, weil der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in der Finanzierung einen neuen Weg geht und die Sprachförderung als Einzelfallhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) abrechnet. „Nur so sind die Kleingruppen möglich“, sagt Walter, „und die sind für den Erfolg zentral.“

„Sprachanregendes Verhalten“ heißt der Schlüsselbegriff in dem Konzept. Das hört sich alltäglich an, ist es aber nicht. „Wir haben beobachtet, dass Erzieherinnen sich der Kindsprache anpassen“, sagt Walter. Kinder aber bräuchten Sprachvorbilder, die sie auch mit komplexen Sätzen vertraut machen. „In den Kitas werden bei weitem nicht alle Möglichkeiten zur Sprachanregung genutzt.“ Walters Team hat sich gefragt, welchen Wortschatz ein Kind haben soll. Und: Worüber soll es sprechen können? Daraus wurden Bausteine erarbeitet, die jeweils ein Programm für mehrere Wochen bilden: der Körper zum Beispiel, die Tiere, das Wetter. Eine gute Vorbereitung, sagt der Sprachwissenschaftler, sei notwendig, um situativ auf die Kinder eingehen zu können.

Schenks fünf Vorschulkinder treiben sich inzwischen auf dem Bauernhof rum, gedanklich zumindest. Sie starren auf das Bilderbuch, und Tina Schenk fragt. „Was ist das für ein Tier, Neglihan? Wie heißen die Kinder der Schweine, Cemil? Warum sitzt die Ente auf den Eiern, Mehmet?“ Die Kinder antworten – manchmal falsch, manchmal wortkarg, dann berichtigt Schenk oder fragt nach. Manchmal aber fangen sie mit dem Erzählen an. Neglihan war am Wochenende mit ihrer Oma Enten füttern. „Als sie in meine Gruppe kam, hat sie nicht ein einziges Wort von sich gegeben“, sagt Schenk.

Das ganze Team hofft nun, dass langfristig das Modellprojekt auch politische Konsequenzen hat. „Da muss etwas passieren, auch wenn das Geld in Berlin knapp ist“, sagt Walter. Er hat Recht. Mit Kindern, die kein Deutsch sprechen, die an der Schule scheitern und damit keine Chance haben auf dem Arbeitsmarkt, schafft sich die Stadt ein riesiges Problem.

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