: Sammers Hammer
Beim 4:3 gegen den HSV wirkt Borussia Dortmunds Magister ludens mehr meister-, als kulturbildend
HAMBURG taz ■ Als der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga 1938 in seinem Buch „Homo ludens“ das Spiel als Grundkategorie des menschlichen Verhaltens und seiner Entwicklung hervorhob, konnte er noch nicht ahnen, dass er 64 Jahre später möglicherweise eine Fußballmeisterschaft entscheiden würde. Selbst wenn BVB-Coach Matthias Sammer im Auswärtsspiel gegen den HSV die als kulturbildend geltenden Thesen Huizingas an der Seitenlinie schnell in meisterschaftsbildende uminterpretierte.
Der „Magister ludens“ Sammer, dessen Feldspielerinstinkte noch des häufigeren durch seinen geschundenen Körper zucken, begriff schnell, das der Ritt auf dem Meisterschalenrand im Hamburger Volkspark von Beginn an zu einem brutalen Hindernisparcours auf dem Weg zum „Saisonziel Meisterschaft“ (Sammer) werden würde. Nicht nur weil der ehemalige Dortmunder Sergej Barbarez, der im Westfälischen selten aus der Rolle des Reservisten herauswachsen durfte, im Vorfeld großspurig tönte, dass er den Dortmundern endgültig die Meisterschale aus den Händen schießen wolle. Was dem Borussen-Coach viel größere Sorgen bereitet haben dürfte („Ich kann nicht mehr sprechen, dass Spiel hat mich mitgenommen“) war die Tatsache, dass der HSV, an der Grenze der Unfairness agierend, in den ersten Minuten des Spiels klarste Torchancen besaß.
Sammer hätte sich in dieser Situation wohl gerne selbst ein Trikot übergestreift, um die nötige Standhaftig- und Raubeinigkeit innerhalb seines Teams zu gewährleisten. Die den Trainer begrenzende Coaching-Zone verlegte er kurzerhand in Selbstjustiz bis an die Seitenlinie. Eben dort musste der aufbrausende Trainer das zweite Foul gegen sein Team in kurzem Abstand miterleben. Sammer fluchte und zeterte, während das Objekt seiner Leidenschaft auf ihn zurollte. Er vergaß, dass er im Anzug außerhalb des Spielfelds aufgestellt war, und tat, was ihm von ärztlicher Seite längst untersagt worden ist. Er zog ab. Präzise und mit voller Absicht in Richtung des rüpelhaften Barbarez, der den Ball an den Allerwertesten bekam. „Ich wusste gar nicht, dass ich noch so hart schießen kann. Heute muss ich mein Knie erst mal kühlen“, witzelte Sammer erstmals nach 33 Spieltagen obwohl er später eingestand, in diesem Moment als Trainer wenig vorbildhaft agiert zu haben.
In dieser 16. Minute des Spiels wird ihn das wenig gestört haben. Zwar zeigte ihm Schiedsrichter Fandel, wie später auch zwei weiteren Spielern (Hertzsch und Wörns), die Rote Karte, doch konnte der BVB-Coach sicher sein, seiner Mannschaft den einzig Erfolg versprechenden Stil vorgeführt zu haben. Der BVB verengte nun die Aktionsradien des Hamburger Aufbauspiels und ging konsequenter in die Zweikämpfe. Jetzt begannen auch die Dortmunder, die Regeln bis an ihre Grenzen auszureizen und machten sich dabei nicht schlechter als der vierschrötige HSV. Mit den drei Unterschieden Sebastian Kehl, Otto Addo und Amoroso, die gemeinsam drei Vorlagen und zwei Tore in einem wunderbaren Spiel produzierten. Sie setzten neben den kämpferischen auch die nötigen spielerischen Akzente, um den letztlich verdienten 4:3-Auswärtserfolg des BVB zu gewährleisten.
Die Eroberung der Tabellenspitze am vorletzten Spieltag war trotz der Niederlage Leverkusens keineswegs sicher. 90 Minuten wogte das Spiel hin und her, und selbst der erste Gefühlsausbruch Sammers auf der Tribüne nach dem 3:1 durch Amoroso in der 63. Minute war noch kein Indiz für den Erfolg. So fiel nach Schlusspfiff der Jubel besonders lautstark aus, und Sebastian Kehl führte aus, wie schön es ist „totgeschrieben zu sein und wieder aufzustehen“.
Matthias Sammer hingegen versuchte, die Dortmunder Euphorie direkt zu bremsen. Es werde keine besondere Vorbereitung auf das letzte Saisonspiel geben, sagte er. Auf die Frage, ob denn die Zwischenergebnisse im Westfalenstadion zu sehen sein werden, wollte er keine Stellung nehmen: „Auf mich hört doch sowieso keiner.“ Solange der Coach aber weiterhin praktisch demonstriert statt verbal theoretisiert, werden die schwarzgelben Hände die Schale nicht mehr loslassen. OKE GÖTTLICH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen