Mindestlohn im Kreuzverhör: „Existenzen sichern“
■ Fachtag: Experten diskutieren, ob Niedriglohn mehr Arbeit bringt
„Es nützt nichts und es schadet nichts.“ Axel Gerntke, IGMetaller aus Frankfurt, zitierte eine SPD-Politikerin mit ihrem Kommentar zum Mainzer Modell. Aber ist die Subventionierung des Niedriglohn-Sektors – denn nichts anderes beinhaltet das Modell – strategisch ein Schritt in die richtige Richtung? Aus Gewerkschaftssicht ist sie ein Sündenfall. „Wir hatten bislang in Deutschland den Grundsatz, dass Arbeitgeber einen existenzsichernden Lohn zahlen. Von diesem Grundsatz wird jetzt abgewichen“, kritisierte Gerntke den Geist des Modells. Da es aber kaum angenommen würde, könne er sich getrost obigem Zitat anschließen.
Ortwin Baum, der auf dem Podium der Arbeitnehmerkammer-Fachtagung die Unternehmer vertrat, nannte Gründe für die zögerlichen Reaktionen der Arbeitgeber: „Die Durchführungsverordnung für das Modell ist 52 Seiten dick“, kritisierte er den bürokratischen Aufwand. Außerdem gibt es ein Gerechtigkeitsproblem: Die Verkäuferin mit Subvention geht mit einem deutlich höheren Netto-Lohn nach Hause als die ohne.
Für die Grüne Marie Luise Beck geht es bei der Bezuschussung nicht in erster Linie um neue Stellen. Verkäuferinnen, Mitarbeiterinnen in Call Centern, Bedienungen und Putzfrauen würden ohnehin kein existenzsicherndes Salär bekommen. Wenn es aber gelänge, die „Mauer um die 325 Euro-Jobs einzureißen“ – ohne Subventionen lohnt es sich für Arbeitnehmerinnen nicht, ihre Jobs in eine sozialversicherungspflichtige Teilzeit-Arbeit zu verwandeln – hätte man insbesondere für Frauen viel geschafft, so Beck. Der Gewerkschaft warf sie vor, eine männerorientierte, auf Familieneinkommen fixierte Interessenspolitik zu betreiben.
Für den Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel läuft die Diskussion letzten Endes auf einen staatlich garantierten Mindestlohn hinaus, wie ihn beispielsweise Frankreich und die Niederlande haben, um den es jetzt politisch zu streiten gelte. Allerdings sieht er deutlich, dass die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung über kurz oder lang auch Maßnahmen entfalten wird, die „die Leute disziplinatorisch in den Niedriglohnsektor treiben“. Gesiegt haben vorerst die Pragmatiker: „Wir müssen ausprobieren, was das Mainzer Modell nun wirklich bringt“, empfahl Gerhard Heyer vom Bundesministerium für Arbeit. Dem schloss sich der hiesige Abteilungsleiter Härtl an: „Auch wenn wir uns keine entscheidenden Änderungen auf dem Arbeitsamrkt erhoffen.“ hey
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