Gedenken ohne Pathos

Bundesweit wurde gestern in Schulen der Opfer von Erfurt gedacht. Angst scheinen aber die wenigsten Schüler und Lehrer zu haben

BERLIN taz ■ Gleich einen Tag später, noch am Samstagabend, hat bei Schulleiter Klaus Lehnert das Telefon geklingelt. Ein Fernsehsender war dran, „einer, dessen Programm nicht durch Gewaltfreiheit auffällt“, und wollte vor seiner Schule den Schülern in die Tasche schauen. Nach Schlagstöcken, Messern, vielleicht gar Pistolen suchen. Vor laufender Kamera natürlich. Lehnert sagte etwas wie „sinnlose Sensationsberichterstattung“ und legte auf.

„Das würde das Vertrauen zu den Schülern komplett zerstören, also die Basis unserer Arbeit“, sagt Lehnert. Die Albert-Einstein-Oberschule in Berlin ist, ebenso wie die Gutenberg-Schule in Erfurt, ein Gymnasium. Vor dem Schulportal und in den Gärten der Reihenhäuser blühen Zierkirschen. Eine gute Gegend für eine Schule. Angst, dass ein Schüler auch hier durchdrehen könnte? „Unfug. So etwas kann in jeder anderen Institution, jeder anderen Firma passieren.“ Waffenkontrollen an den Eingängen? „Quatsch.“

Die fünf Lehrerinnen, die im ersten Stock beisammensitzen und diskutieren, schütteln die Köpfe. „Ich habe heute morgen kein anderes Gefühl gehabt als sonst“, sagt Evelyn Wulf, die Chemie und Mathematik unterrichtet. Die anderen stimmen zu. Selbstverständlich fühle man mit den Kollegen, stelle sich vor, dass dort jetzt Schreibtische im Lehrerzimmer auf ihre Besitzer warten. Doch hier von ihnen kannte niemand die getöteten Erzieher. Dennoch wird das Kollegium einen Kondolenzbrief nach Erfurt schreiben.

Um elf Uhr hat in der Albert-Einstein-Schule die Klingel geläutet, obwohl die große Pause erst eine halbe Stunde später beginnt. Ein paar Minuten Zeit zum Schweigen – oder zum Reden. „Ein Schüler zum Beispiel geht in einen Schützenverein, was bisher keiner wusste“, erzählt Lehrerin Wulf. In der Klasse habe eine seltsame Stimmung geherrscht, eine Mischung aus „Entsetzen und flapsigen Bemerkungen“. So sah der Montagmorgen wohl an vielen deutschen Schulen aus. In der ersten Stunde fiel häufig der Unterricht aus, eine offizielle Gedenkminute war für 11.05 Uhr, den Tatzeitpunkt, angesetzt. „Das Redebedürfnis ist ungeheuer groß“, sagte Dieter Haase, Vizevorsitzender der Berliner Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. „Viele haben ihrer Ergriffenheit und Trauer freien Lauf gelassen.“

Am Einstein-Gymnasium hört man solch pathetische Sätze nicht. „Es war schwierig, meinen Leistungskurs in Politischer Weltkunde zu einer Diskussion zu bewegen“, erzählt Lehrerin Regina Weiser. „Es herrscht das Gefühl, dass alles schon mal durchgeredet worden ist.“ Sie stellt den Wunsch bei ihren Schülern fest, „der Unterricht müsste näher am Leben sein“. Doch das ist nicht leicht, wenn einige der hundert LehrerInnen, die sich um über tausend SchülerInnen kümmern, manchmal vor Klassen mit 37 Schülern sitzen. Dann zu wissen, was in jedem Kopf vorgeht, ist unmöglich. In Berlin geht der Lehrplan weiter – in vertrautem Miteinander. Doch eines berichten die Lehrer übereinstimmend: Viele Schüler hätten das Gefühl, keine Zukunft zu haben. ULRICH SCHULTE