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Der Polizeihubschrauber dreht ab

Die drei revolutionären 1.-Mai-Demonstrationen in Kreuzberg und Mitte bleiben zunächst friedlich. Polizei setzt trotz Ausschreitungen in der Nacht zuvor weiter auf Deeskalation. Weniger Teilnehmer als in den Vorjahren

Nach den Ausschreitungen in der Walpurgisnacht ist der 1. Mai bis Redaktionsschluss ruhig verlaufen. Die Polizei sprach gestern jedoch von einer „Vorwarnung“. Die Lage sei nicht kalkulierbar. „Wir halten die Ohren gespitzt“, sagt der Einsatzleiter vor Ort in Kreuzberg, Michael Wilhelm. Man halte weiter am Einsatzkonzept der „ausgestreckten Hand“ fest. Tatsächlich sind die Polizeikräfte weit abgesetzt von den Demonstrationszügen, die am Nachmittag mit insgesamt rund 3.000 Teilnehmern durch Kreuzberg ziehen. Statt der üblichen Helme tragen sie Baretts auf den Köpfen. Nur der Hubschrauber, der direkt über dem Zug kreist, stört das friedliche Bild. „Wenn ich den nochmal so dicht bei sehe, werde ich ganz krötig“, gibt Wilhelm an die Einsatzzentrale durch. Tatsächlich: Wenig später dreht der Hubschrauber ab.

Zur ersten der drei revolutionären Maidemonstrationen um 13 Uhr am Oranienplatz hatten erneut vor allem marxistisch-leninistische und maoistische Gruppen aufgerufen. Etwa 1.000 Teilnehmer zogen durch Neukölln und Kreuzberg. „Palästina, Afghanistan, Iran, Kurdistan, Türkei – bei jeder Schweinerei ist die BRD dabei“, holperte es aus dem Lautsprecherwagen. Am Görlitzer Bahnhof traf der Zug um 16 Uhr auf den zweiten Aufzug. Deren Organisatoren hatten sich im Vorfeld ausdrücklich gegen die Befriedungsversuche des Personenbündnisses „DenkMaiNeu“ ausgesprochen.

Dessen Initatoren diskutierten derweil am Rosa-Luxemburg-Platz über ihr „erfolgreiches Scheitern“. Der FU-Professor Wolf-Dieter Narr ließ keinen Zweifel daran, dass der 1. Mai nur dann wieder politisch begangen werden könne, wenn er „absolut gewaltfrei“ sei. Sein Kollege Peter Grottian, auf den das „DenkMaiNeu“ zurückging, plädierte dafür, mit einer Ausweitung der Diskussionen nicht erst bis zum 1. Mai 2003 zu warten. „Wir müssen unmittelbar nach dem Bush-Besuch und vor der Sommerpause einen politischen Ratschlag organisieren, auf dem wir über unsere nächsten Projekte diskutieren.“ Zum Besuch des US-Präsidenten George W. Bush am 22. Mai sind bereits jetzt Demonstrationen angekündigt. Grottian weiter: „Wir müssen wieder in die Offensive kommen, gerade auch bei einem rot-roten Senat, der noch nicht einmal eine intelligente Sparpolitik zu bieten hat.“ Anschließend startete hier nach 18 Uhr der dritte Umzug mit über 3.000 Teilnehmern Richtung Kreuzberg.

Dort verschaffte sich kurz zuvor der amtierende Polizeipräsident Gerd Neubeck – ganz leger in Jeans und Lederjacke gekleidet – einen persönlichen Eindruck. „Die Polizei hat ihr Einsatzkonzept zu 100 Prozent eingehalten“, zieht er eine vorläufige Bilanz. Von einem Erfolg könne man angesichts des geplünderten Ladens und der hohen Zahl verletzter Polizisten aber nicht sprechen. „Dazu gehören immer zwei. Aber die jungen Leute haben nicht mitgespielt.“

Von einem Scheitern des Deeskalationskonzeptes will Neubeck aber auch noch nicht sprechen. Ebenso wie ein Verbot könne so etwas nicht sofort greifen, sondern müsse auf mehrere Jahre angelegt werden.

BD/PLU/WERA

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