: Die demokratische Barriere
Der Stimmenzuwachs für Le Pen drückt eine antizivilisatorische Gegenströmung zur Moderne aus. Am Sonntag hat sich die Zivilgesellschaft als stärker erwiesen
Erst hat die zersplitterte französische Linke aus eigener Schwäche einem rechtsradikalen Demagogen den Weg in die Stichwahl geöffnet. Nun hat sie mit einer breiten republikanischen Mobilisierung dem amtierenden Präsidenten zur eindeutigen Wiederwahl verholfen. Vor allem die zahlreichen Kundgebungen – am 1. Mai 500.000 Teilnehmer alleine in Paris, insgesamt 1,5 Millionen im ganzen Land – hatten eine Stimmung geschaffen, in der sich ein Wille zur entschiedenen Verteidigung der Republik ausdrückte: Nein zu Hass, Intoleranz und Xenophobie! Erste, zweite, dritte Generation – wir sind alle Kinder von Einwanderern! Blacks, blancs, beurs, tous ensemble! Non au fascisme!
Die franzöischen Grünen waren die Ersten, die zu beidem aufriefen: zu Demonstrationen gegen Le Pen und zur Wahl von Chirac. Die Zivilgesellschaft stand auf, um eine demokratische Barriere gegen den Lepenismus zu errichten. Es waren die Jungen mit selbst gemalten Pappschildern, die das Bild bestimmten, die alten Partisanen, die Intellektuellen und Künstler und auch die Spitzensportler mit ihrem Bekenntnis zu einer „bunten“ Republik. Sogar die Arbeitgeberverbände schlossen sich an.
Nur Jospin selbst, der nach seinem Scheitern im ersten Wahlgang beleidigt seinen Rückzug aus der Politik angekündigt hatte, konnte sich bloß verschämt, nämlich per Fax, eine Wahlempfehlung abringen. Natürlich verweigerte am linksradikalen Rand auch Arlette Laguiller, die trotzkistische Ikone der permanenten Revolution, unbeugsam jedes Zugeständnis an die politische Vernunft, ohne großen Schaden anzurichten.
Dass Le Pen bei erheblich gestiegener Wahlbeteiligung klar unter 20 Prozent gehalten werden konnte, symbolisiert den Erfolg des republikanischen Pakts, den das Bündnis aus Sozialisten, Grünen und Kommunisten zusammen mit der eher passiven bürgerlichen Rechten zustande gebracht hat – auch wenn man eine 80-Prozent-Mehrheit bisher nur aus den versunkenen Volksdemokratien des realen Sozialismus oder aus den Oligarchien der Dritten Welt kannte. Der konservative Staatspräsident, vor wenigen Wochen noch als „Pate der Korruption“ verrufen und vom Fernsehen als „Supermenteur“, als Oberlügner, vorgeführt, kann sich nun als Retter der Nation feiern lassen. Chirac hat mit Hilfe der Linken die Bedrohung von rechts, welche die Erinnerung an Vichy-Regime und Algerienkrieg wiederaufleben ließ, abgewehrt und das zerrissene Frankreich geeint, De Gaulle und Mitterrand in einer Person, ein Sonnenkönig der Demokratie.
Der Schock hat heilsam gewirkt, die Impfung war erfolgreich, der Rechtsradikalismus ist in die Schranken verwiesen worden – so könnte die Präsidentschaftswahl vom Ende her gedeutet werden. Das trübe Gemisch aus sozialer Demagogie, völkischem Hass und europafeindlichem Ressentiment hat letztlich eine Immunreaktion ausgelöst, die Frankreich in Zukunft vor dem reaktionären Gift schützen wird.
Diese tröstliche Sicht hat einiges für sich, aber sie ist auch von einer gefährlichen Illusion begleitet. Seit 1984 hat Le Pen (mit einer einzigen Ausnahme) stabile 10 bis 15 Prozent der Stimmen erreicht, nun ist er bei 18 bis 20 Prozent angekommen. Sechs Millionen Stimmen: Gegenüber dem ersten Wahlgang hat er noch dazugewonnen. Sind das alles Protestwähler, die bloß ihrem Zorn gegen die Eliten Ausdruck verleihen wollten? Durch eine hysterische Sicherheitsdebatte Verunsicherte, die auf Schutz durch einen starken Staat hoffen? Enttäuschte und Verzweifelte, die einer Dauerkohabitation des Stillstands einmal einen Denkzettel verpassen wollen?
40 Prozent bei den Arbeitslosen, 30 Prozent bei den Vorstadtbewohnern, 20 Prozent bei den Bauern und Winzern, 20 Prozent bei den Jungen – alles Stimmen der Rache? Die Abstinenten, Nicht- oder Ungültig-Wähler, die Gleichgültigen – verirrte Schafe, die angesichts einer drohenden rechtsradikalen Präsidentschaft den demokratischen Wert ihrer Stimme wieder schätzen lernen? Solche mit sozialpsychologischen Erklärungsformeln garnierte Analysen dienen eher der Selbstberuhigung der politischen Klasse. An die tieferen Ursachen des historischen Wahlerfolgs von Le Pen kommen sie nicht heran.
Das Anwachsen rechtspopulistischer Parteien in Europa verweist auf eine destruktive antizivilisatorische Unterströmung der westlichen Zivilisation. Verstärkt wird sie durch die Medialisierung der Welterfahrung, gespeist wird sie aus verschiedenen Quellen.
– Die erste Quelle liegt in der Ökonomie einer Zweidrittelgesellschaft, wie sie unter der neoliberalen Marktreligion auf Dauer eingerichtet scheint. Sie schließt ganze Gruppen von der gesellschaftlichen Teilhabe aus und leistet einer fatalen Desintegration der Lebenswelten Vorschub.
– Die zweite Quelle kann man in einer durch Unterentwicklung, globale Gerechtigkeitslücken und Bürgerkriege enorm beschleunigten Immigration ausmachen. Sie hat einen mal latenten, mal offenen Rassismus zur Folge, unter dem das republikanische Ideal der Gleichheit zunehmend durch Embleme der ethnischen Zugehörigkeit ersetzt zu werden droht.
– Die dritte Quelle schließlich bildet eine hochgradig vernetzte, aber zugleich durch soziale, religiöse und kulturelle Konflikte zerrissene Weltgesellschaft. Sie führt bei vielen zu einem mentalen Überforderungssyndrom, das wiederum in die Sehnsucht nach schlichten Konzepten umschlägt.
Alle drei Quellen zusammen mischen sich zu einem Grundgefühl der Bedrohung, der virtuellen Unsicherheit, das der reaktionären Rechten mit ihrer Kritik am „System“ nützt, erzeugen eine rebellische „Wir da unten,ihr da oben“-Mentalität vor allem bei den „kleinen Leuten“, auf die Le Pen setzt. Das Sicherheitsthema, vordergründig an Fragen des Bandenvandalismus, der Straßengewalt oder des Alltagsverbrechens festgemacht, ist die Chiffre für eine sehr viel tiefer reichende Verunsicherung an der globalisierten Moderne, die die aggressiv-zerstörerischen Reaktionsbildungen einer Gegenmoderne erst hervorbringt.
Was tun? Bei der Gestaltung einer aus den Fugen geratenen Welt hat Europa etwas zu bieten, was zuerst im Inneren verteidigt werden muss: die Tradition der Aufklärung, die Werte der Französischen Revolution, die Lehren aus dem Totalitarismus, die politische Demokratie und nicht zuletzt eine sozialökologische Zukunftsvision. Diese kann im 21. Jahrhundert freilich nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus entwickelt werden – und nicht mit den verbrauchten Ideologien des 20. Jahrhunderts. Die Grünen ahnen das bereits, die Linke insgesamt muss es noch lernen.
DANIEL COHN-BENDIT MARTIN ALTMEYER
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