Super-8-Orgie im Netzportal

Es gibt mittlerweile endlose Möglichkeiten, sich mit Kurzfilmen eine Nische zu bauen. Bei den 48. Kurzfilmtagen in Oberhausen ließ sich feststellen: Dieses Mehr an Medien und Kanälen hält wach

von HARALD FRICKE

Was die Jahre vorher war, haben alle vergessen. Adenauer? Ganz sicher. Heimatfilme? Vielleicht. Dann kam Kluge, Alexander, 1962 mit seinem Manifest für ein Autorenkino nach Oberhausen. Er fehlte diesmal, sonst hätte man sein Gesicht gewiss erkannt unter den Schnappschüssen auf der Pinnwand gleich neben dem Eingang zum „Lichtburg“-Theater. Aber da hingen aktuelle Fotos von Ian White, Ted Gaier, Daggie Brundert und hundert anderen FilmemacherInnen, die sich in Oberhausen trafen, weil die 48. Kurzfilmtage waren.

Heute sind im Kino der kleinen Formate alle AutorInnen. Es fällt nur nicht so sehr auf wie vor 40 Jahren. Die Grenzen des Genres sucht niemand mehr. Harte Cuts, Loops und Sampling sind im Film erlaubt, der Bilderbeat ist flexibel wie in anderen Clubs auch. Im Deutschen Wettbewerb wurde Christoph Girardet als Sieger gefeiert, weil er das Kratzen von Schallplatten aus entsprechenden Spielfilmsequenzen aneinander montiert hat. Dabei ist „Scratch“ eine Schnittübung im Zeichen des DJs, die mit dem Mythos vom Plattenauflegen kokettiert. Der Jury gefiel das „Traktat über Differenz und Wiederholung“ trotzdem am besten.

Girardets präzise seziertes Bild/Sound-Konstrukt funktioniert nicht ohne Computer, Schnitts Film ist ohne Photoshop-Vorarbeit schwer vorstellbar. Das digitale Heimlabor stellt nicht nur einen Faktor der Produktion dar, sondern gehört zum Lebensentwurf, als Treibriemen von Biografien, die zwischen Technologie, Dienstleistung und Kulturprogramm angesiedelt sind: Es gibt bildende Künstler, die Oberhausen als erweiterte Vernissage nutzen; es gibt die Start-up-Kreativen, die nach dem Job in der Werbefirma noch Zeit für wacklige Super-8-Orgien finden, um das System zu kritisieren, das sie füttert; und es gibt endlose Möglichkeiten, sich zwischen MTV-Clips und der Arte-Mitternachtsschiene eine Nische zu bauen. Wer will, kann seine Repäsentationsmaschinchen auch ins Netz stellen, irgendein Portal für den Bilderaustausch hat immer auf – wenn nicht bei Leo Kirchs kriselndem www.shorts-welcome.de, dann eben unter www.shortfilm.de.

Verblüfft stellt man nach fünf Tagen fest, dass dieses Mehr an Medien und Kanälen nicht notwendig schneller müde macht. Ständig rennt man vom Kaffee aufgekratzt zwischen den zwei Aufführungskinos hin und her, nimmt eine Retrospektive des jugoslawischen Sixties-Aktivisten Karpo Godina mit oder schaut beim Briten John Maybury zu, wie sich schwul aufgeladene Flimmercollagen hervorragend als Content-Tapete in Popvideos für Boy George eignen.

Wer Zeichentrick mit Realszenen kombiniert, kann wiederum glaubhaft die wirre Vielfalt einfangen, die sich im Kopf von Schizophrenie-Patienten abspielt – zumindest hat es bei Jonathan Hodgsons „Camouflage“ im Internationalen Wettbewerb geklappt, die Wahnvorstellungen mit viel Wärme comichaft zerfließen zu lassen, ohne die Krankheit als Lieferanten von Anekdoten zu benutzen. Dafür hat der Film den NRW-Preis bekommen, der Hauptpreis ging an den collagierten Albtraum „Dream Work“ des Österreichers Peter Tscherkassky. Auch hier lassen sich Fundstücke aus dem Kinoarchiv, abstrakte Digitalschnipsel und Fiktion nicht mehr unterscheiden. Das ist der Laptop-Alltag 2002.

Bei aller Liebe zur gedoppelten Welt war da noch was: der Terror der Realität, vor der wir uns seit dem 11. September mehr fürchten als vor Überwachungskameras, Big Brother oder dem simulierten Leben im Falschen. Vermutlich hätte sich also ein neues Manifest gut gemacht: Achse des Bösen, Krieg und Spaßgesellschaft – das sind Themen, bei denen das Kino nicht zurückzustehen braucht, wenn Meinung gefragt ist. Oberhausen blieb hier unaufgeregt. Im Wettbewerb gab es nur den Film von Claudia Aravena, in deren „11 de septiembre“ das World Trade Center noch einmal Feuer fängt zu einer Textpassage aus Marguerite Duras’ „Hiroshima Mon Amour“. Danach folgen Sätze Salvador Allendes über die Geschichte, die allein den Menschen gehört, die sie geschrieben haben, dazu der brennende Präsidentenpalast in Panama. Wer Wahrheiten sucht, die kein noch so unmittelbarer Schrecken ungeschehen machen kann, wird bei Aravena welche finden.

Florian Wüst war dieser Verweis auf historische Schuld zu kurz gedacht. Stattdessen hat der in Rotterdam lebende Videokünstler für Oberhausen gleich 15 Filmprogramme zum Thema „Katastrophe“ kompiliert: von Stummfilmdokus über das Erdbeben in San Francisco 1906 bis zur Vorortreportage, die die palästinensische Regisseurin Alia Arasoughly mit Frauen der Oberschicht in Nablus gedreht hat. Selbst in den Diskussionen war plötzlich zu spüren, wo Bilder ihre Grenzen haben – es ist der Kontext, der den täglichen Nachrichten aus dem Krisengebiet abgeht. Schon am Wort „Märtyrer“ trennen sich Welten: Der Westen verbindet damit noch immer religiöse Fanatiker, die für ihre Sache sterben; in Palästina werden all diejenigen so bezeichnet, die keines natürlichen Todes sterben. Irgendwann sagt eine der Frauen im Film: „Hoffentlich war dieser Junge der Letzte, der als Märtyrer sterben musste“ – und meint damit, dass es keine Opfer mehr geben soll. Auf beiden Seiten.

Tags darauf kam er doch noch, der Filmabend zu Ground Zero. Nur dass der brennende Wolkenkratzer bei François Bucher lediglich als Postkarte zu sehen war, weil der gebürtige Kolumbianer sich in seinem vorsichtig an den offiziellen Regierungsstatements entlangtastenden Essay für die Rhetorik der „infinite justice“ und die Ökonomie hinter dem US-Patriotismus interessiert. Bucher genügen paradoxe Konstellationen: Wo Fahnen geschwungen werden, sind auch die Billiglohnländer nicht weit, in denen diese Fahnen produziert werden. Das letzte Bild zur Katastrophe in New York hatte aber Jonas Mekas. Sein Video zeigt nur das brennende Hochhaus, im Hintergrund schluchzt eine Frau, als der erste Turm einstürzt. Dann hört man auf der Tonspur endlos Sirenen: Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen. Ein grelles Konzert, das überlaut durch die Straßenfluchten hallt, eine unsichtbare Performance. Selten war die Stadt ein dermaßen lebendiger, selbst im Schock funktionierender Organismus wie in diesen Stunden am 11. September.