: Distanz, lebenslänglich
Die Mutter ist ein unter Schmerzen gebärendes und lebendes Wesen. Gerade in Deutschland hat sie die Zeiten erst noch vor sich, in denen sie nicht die Verzichtende geben muss. Notizen zum morgigen Muttertag, angereichert mit Betrachtungen zum Lebenslauf Hannelore Kohls und zu einem Film von Ingmar Bergman
von DIRK KNIPPHALS
Mutter, du hattest mich, aber ich hatte dich nie. Ich wollte dich, aber du wolltest mich nie. Deshalb muss ich dir sagen: Goodbye, goodbye. „Mother“, ein Song von 1970. Autor: John Lennon. Mit dramatischen Glockenschlägen lässt er es einsetzen, um seine Mutter schließlich mit klarer Stimme zu verabschieden. Ein dunkles Gegenwiegenlied.
Mag sein, dass man eine bestimmte Empfindsamkeit braucht, um es goutieren zu können. Auch mich hat es erst fasziniert, als ich Lennon das Lied tatsächlich habe singen sehen, auf einem Video. So ein Weltstar, und dann so ernsthaft eher frühkindlichen Verlorenheitsgefühlen ergeben!
Aber Faszination war nur das eine. Das andere war Peinlichkeit. Es hatte etwas Peinsames, Lennon beim Singen dieses Liedes zuzusehen, so als lasse er einen jetzt zu nahe an sich heran, als berühre man eine intime Stelle seines Bewusstseins, von der man lieber nicht allzu viel wissen wollte. Wie kann man solch persönliche Dinge nur so herausschreien. Insgesamt fühlte ich mich in meinem Vorsatz bestärkt, niemandem, wirklich niemandem zu glauben, der behauptet, beim Reden über Mütter im Allgemeinen und die eigene Mutter im Besonderen niemals das Gefühl der Peinlichkeit zu empfinden.
Von manchen sentimentalen und wohl auch weinseligen Stunden abgesehen kramt heutzutage niemand mehr seine alten Lennon-Scheiben aus der Restvinylsammlung hervor. Ich habe meine noch einmal aus der Plattenhülle geholt, weil es hier ja um Abschiede von der deutschen Mutter gehen soll. Die Glockenschläge am Anfang des Liedes sind tatsächlich in der Lage, die Schwere dieses Themas ausreichend zu grundieren. Man habe sie beim Lesen bitte die ganze Zeit über im Ohr.
Neulich habe ich tatsächlich an dieses Lied denken müssen; das war bei der Erzählung „Muttersterben“ des noch jungen Schriftstellers Michael Lentz. Der Autor hat damit im vorigen Jahr den Vorlesewettbewerb in Klagenfurt gewonnen. Es ist ein bemerkenswerter Text, längst nicht nur wegen des Furcht einflößenden Titels. Einen so eindringlichen Abschied von der Mutter wie hier gibt es nicht sehr häufig zu lesen.
Irgendetwas muss dabei vehement in Michael Lentz gearbeitet haben. Sonst schreibt er gerne mäandernde, lautmalerische, so genannte experimentelle, auf jeden Fall schwierige und kunstreiche Prosa. Aber bei der Erzählung mit dem Titel „Muttersterben“ ist er sehr konkret. Nicht nur im Hinblick auf das geschilderte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn.
In Düren, der Kleinstadt, in der Michael Lentz geboren wurde und in der auch die Erzählung spielt, stieß vor allem auf, dass Lentz seine Heimat im Text als „verschissenes Düren“, als „auf den Hund gekommenes Düren“ bezeichnet hat. An einer Stelle kommt es gar zur Forderung: „Bitte alle Düren schließen.“ Die Geschichte beschreibt den Tod einer Mutter – Krebs, Krankenhaus, Verabschiedungen – und wie sich dieses Sterben im Sohn spiegelt.
Es geht darum, dass der Sohn zu seiner Mutter, zu der er nie guten Kontakt gehabt hatte, auch in einem so aufgeladenen und schweren Moment wie dem ihres Todes keine Beziehung zu ihr findet: „Und du bist nie mit Mutter ins kino gegangen und nie mit Mutter ins theater gegangen, stellte ich fest. Überhaupt bist du mit ihr immer nirgendwo hingegangen. Es gibt so viele letzte blicke, dass ich gar nicht mehr weiß, wann genau ich sie zuletzt gesehen habe.“
Am Schluss heftet der nun Witwer gewordene Vater die wiedergefundenen Liebesbriefe seiner verstorbenen Frau fein säuberlich in einem Leitz-Ordner ab. Michael Lentz schildert, man kann es nicht anders sagen, eine unglückliche, eine verkorkste Mutter-Sohn-Beziehung. „Gefühlstaubheit“ empfindet bei ihm der Sohn anlässlich des erbärmlichen Zustands der Mutter im Krankenhaus.
Gefühle der Distanz gab es, lebenslänglich: „Die Mutter, das fremde denken. Nie reichst du heran!“ Und einmal erinnert sich der Sohn: „Es hat schöne gespräche gegeben in unserem leben. Aber wovon handelten die schon. Es sind wichtige dinge, vom wetter und vom essen zu reden. Mutter sprach gern vom wetter und vom essen.“ Genau registrierte Einzelheiten, in denen, sobald eine Empfindung von Nähe aufkommt, sofort ein Moment von Abwehr und Fremdheit eingebaut ist. Wobei der Clou der Erzählung nun darin besteht, dass hier nichts bedauert oder beklagt wird. Vielmehr kommt beim Lesen der Verdacht auf: Vielleicht ist das eben so, vielleicht muss das sogar so sein, dass man sich zwischen den Generationen nichts wirklich zu sagen hat.
Jedenfalls gehe ich jede Wette ein, dass Michael Lentz eine momentan typische Konstellation beschreibt. Man hatte sich als Kind schon gelöst von seinen Eltern, der Vater war emotional randständig geworden, die libidinösen Bindungen an die Mutter waren verblasst, und dann gibt es ein Ereignis (hier die Krebserkrankung), durch das die ganze Psychodynamik noch einmal hochkocht, zumindest aufflackert.
Dass diese Dynamik nun nicht als Kampf, als Auseinandersetzung zwischen Kindern und Eltern lodert (der Kampf gegen die Väter: das große Achtundsechzigerthema, die Mütter spielten damals keine große Rolle), sondern sozusagen schwelend in der Bewusstwerdung und im Eingeständnis der Distanz, das ist dabei wohl das Neue, das in den aktuellen Generationenkonflikten bedacht werden muss. Michael Lentz wurde 1964 geboren, im letzten der geburtenstarken Jahrgänge, ehe der Pillenknick einsetzte. Zugleich war es einer der ersten Jahrgänge, die die zivilisatorischen Errungenschaften der Achtundsechzigerjahre selbstverständlich aufnehmen konnte, Selbstverwirklichungsdrang, Individualisierung und sexuelle Liberalisierung inklusive.
Die Eltern dieser Jahrgänge wurden in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre geboren. Für die Studentenbewegung, für den Aufbruch jener Jahre überhaupt waren sie zu alt. An den Biografien Hans Magnus Enzensbergers und Helmut Kohls hat Jörg Lau im Mittelweg 36 einmal analysiert, dass das mächtigste Bestreben dieser Generation darin bestand, normal zu sein, koste es, was es wolle; was auch für die Mütter gilt. Ein Ziel, mit dem ihre Kinder gar nichts mehr anfangen konnten. Das (aus der Erfahrung des Ausnahmezustands resultierende) Normal-sein-Wollen haben sie als Hang zur Spießigkeit verstanden, eine der Hauptquellen für aufkommende Peinlichkeitsgefühle.
Zugleich ist die Elterngeneration, um die es hier geht, nun in die Jahre gekommen, in denen, wie es bei Michael Lentz heißt, „das sterben passieren“ kann. Auf jeden Fall sind sie dabei, sich auf das Alter vorzubereiten. TV-Vorabendserien mögen geglücktere Geschichten von der Generationendifferenz erzählen, es ist dennoch davon auszugehen, dass Lentz eine Situation schildert, wie sie heute schon tagtäglich in der Realität stattfindet: Gefühlstaubheit bis zuletzt. Alle Welt redet vom Kampf der Achtundsechzigerkinder gegen ihre Eltern.
Die eigentlich drängende Auseinandersetzung betrifft doch aber wohl die jeweils zehn Jahre älteren Jahrgänge. Die letzte Müttergeneration, der Selbstaufopferung noch ein nicht hinterfragbares Ideal war, für die eine heile Familie das höchste Gut darstellte, sie ist auf dem Rückzug. Und für ihre von Hedonismus und Ichsuche geprägten Kinder bietet sich vielleicht die letzte Gelegenheit, sich mit ihr auseinander zu setzen, und sei es Abschied nehmend.
Einen die Bundesrepublik bewegenden Tod aus dieser Müttergeneration hat es bereits gegeben, den von Hannelore Kohl. Ihre Biografin Patricia Clough kann sich die große Anteilnahme, die ihrem Schicksal entgegengebracht wurde, nur erklären, indem sie in Hannelore Kohls Leben Beispielhaftigkeit erkennt: „Viele von ihnen hatten, wie Hannelore Kohl, während des Krieges und danach schwere Schicksalsschläge und Härten zu erleiden, die meisten haben stets für andere und durch andere gelebt und ihr Leben den Ehemännern und Kindern gewidmet.“
In diesem Leben werden sich wirklich viele Frauen wieder gefunden haben. Und viele Söhne im Alter des Erzählers von „Muttersterben“ werden Parallelen zu ihren Müttern erkennen. Wer etwa die andere Hannelore-Kohl-Biografie liest, jene, die deren Sohn Peter Kohl, Jahrgang 1965, zusammen mit der Journalistin Dona Kujacinski verfasste, wird auf alle Themen stoßen, die diese Müttergeneration merkwürdig fremd und fern erscheinen lässt.
Nur eine kleine Blütenlese. „Das schaffen wir, das stehen wir durch, und am Ende kommen wir sogar noch gestärkt dabei raus.“ Diesen Satz, so erfahren wir, habe Hannelore Kohl häufig in schwierigen Situationen gesagt. An anderer Stelle wird sie zitiert mit dem Satz: „Es gibt letztendlich nur zwei Wege. Den der Depression und den des Dennoch. Der Weg des Dennoch ist der, den ich will.“ (Während die Mutter in „Muttersterben“ Depressionen hat.) Ein Leben mit zusammengebissenen Zähnen, unter dem Zeichen des Dennoch.
Diese Sätze sollen den Selbstmord der Hannelore Kohl als bewusste Tat erscheinen zu lassen. Das war keine Frau, die leichfertig aufgibt, will uns das sagen. Aber wer kann sich des Eindrucks erwehren, dass sich hier eine Frau mit Patentrezepten der Härte und Kälte gegen die Fährnisse des Lebens wappnen musste! Dazu passt die Selbstverständlichkeit, mit der in der Biografie vorausgesetzt wird, dass Hannelore Kohl im Zweifelsfall natürlich hinter ihrem Mann, den Kanzler, zurückzutreten hat.
Fritz Ramstetter, Freund der Familie Kohl, über die politische Wendezeit 1982: „Dass Helmut Kohl die psychische Energie aufbrachte, alles durchzustehen, war nur möglich, weil sie hinter ihm stand. Wenn sie ihrem Mann jetzt auch noch Vorwürfe gemacht hätte, wäre es zu einer Belastung in der Ehe gekommen, was zur Folge gehabt hätte, dass er sich nicht hätte durchsetzen können.“ Zudem verzeichnet die Biografie mit Akribie jeden öffentlichen Auftritt, den Hannelore Kohl nur unter Schmerzen durchstand, etwa weil eine Kamera sie am Kopf getroffen hatte.
Das Krankheits- und Schmerzthema, bis zum Letzten breitet diese Biografie es aus. „Die Disziplin, Schmerzen nicht zu zeigen, hat ihr die Mutter beigebracht“, heißt es an einer Stelle über Hannelore Kohl und ihre Mutter Irene Renner. Und an anderer Stelle wird ein Professor Möbius, der Hausarzt, mit den Worten zitiert: „Frau Kohl besaß eine hohe Schmerztoleranzgrenze, und im Gegensatz zu vielen Menschen klagte sie selten.“ („Meine Mutter ist eine Krankheitsgeschichte“, heißt es lakonisch einmal in „Muttersterben“.)
Dafür fehlen in der Biografie, immerhin vom Sohn mitverfasst, auf geradezu eklatante Weise persönliche Erlebnisse und private Gespräche. Der Schäferhund, die Urlaube, die Tatsache, dass Hannelore Kohl bis zuletzt ihr Körpergewicht aus Abiturzeiten hielt, werden erwähnt – mehr nicht. Nur einmal bezieht sich die Biografie ausdrücklich auf ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, mit Walter Kohl, dem Älteren. Bezeichnenderweise geschieht es, als Hannelore Kohls Mutter gestorben ist. Beim Herausgehen aus dem Sterbezimmer begegnet Hannelore und Walter Kohl eine junge Mutter mit einem frisch geborenen Säugling auf dem Arm. „Siehst du, das ist das Rad des Lebens“, soll Hannelore Kohl da gesagt haben. Viel Ich-ferner kann man in einer solchen Situation kaum reagieren.
Man muss die beiden Texte parallel lesen, um eine Ahnung davon zu entwickeln, was es heißt, von dieser Müttergeneration Abschied zu nehmen. Bei Michael Lentz erfährt man einiges über die Verwirrung der Abschiednehmer, auch manches über ihre untergründige Wut angesichts von Frauenleben, die es bis zum Ende offenkundig nicht schaffen, bei sich selbst anzukommen.
Nichts davon aber in der Hannelore-Kohl-Biografie. Dafür birst sie vor Material, das man in die Leerstellen der Erzählung „Muttersterben“ projizieren kann. Deutlich zeichnet sich hier eine modernisierte Variante des Typus der „deutschen Mutter“ ab, wie ihn etwa die Sozialwissenschaftlerin Barbara Vinken nachzeichnete. Zentral ist dabei der ins Aggressive gewendete Hang zur Selbstverleugnung: sich für andere aufgeben, aber das Gleiche auch von anderen verlangen; alles ertragen und erdulden, aber dafür auch Anerkennung erfahren wollen. Eine sehr deutsche Haltung, die, was soll man da groß drumherumreden, in der Nazizeit geradezu zur Staatsidee der Mutter wurde.
Es dauert einige Generationen, bis das wieder abgetragen ist. Während in der Biografie die Kriegszeit kurz abgehandelt, aber doch zur Erklärung von Hannelore Kohls Psychostruktur herangezogen wird (wobei es vor allem auf Bombenalarm und Flucht ankommt), steht in der Prosaerzählung im Klartext das Motto, das über allen Fremdheiten zwischen dieser Sohn- und dieser Müttergeneration stehen könnte: „Mutter war nicht von dieser Gesellschaft. Ich glaube, sie war aus dem Krieg.“
Das Stichwort Achtundsechzig fiel schon. Aber wenn man sich noch ein wenig umtut auf der Suche nach konkreten Punkten, die diese Müttergeneration den Nachgeborenen inklusive ihrer eigenen Kinder fremd werden ließ, kann man auf einen sehr schönen Essay von Stephan Wackwitz stoßen, der sich seinerseits auf Ingmar Bergmann beruft. Diesem Essay zufolge trennen uns zwei Gegenstände von diesen Müttern: zwei Dosen Bier. Der Regisseur Ingmar Bergman wurde, so Wackwitz, um 1972 herum gefragt, was er mit seinen „Szenen einer Ehe“ habe erreichen wollen.
Und Bergman habe nun also gesagt, er wolle erreichen, dass ein Ehepaar, aus seinem Film kommend, sich in die Küche setzt, zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank holt und darüber redet, ob es eigentlich glücklich miteinander sei. Ein schönes Bild. Und ein Lackmustest. Wer Eltern hat, die sich tatsächlich beim Bier über ihr Glücklichsein unterhalten können, wird beim Abschiednehmen sicherlich andere Probleme haben als die von Fremdheit. Wahrscheinlich wird dabei wirkliche Trauer eine Rolle spielen.
Die Eltern bei Michael Lentz und die Kohls kann man sich bei dieser Beziehungsarbeit aber nur schwer vorstellen. Es ist vielleicht angebracht, an dieser Stelle auf Niklas Luhmanns Text „Liebe als Passion“ zu verweisen. Ihm zufolge lassen erst die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und die Individualisierung innerhalb der Familie echte Freiräume für persönliche Bindungen zu.
Die Mutter in „Muttersterben“ als auch Hannelore Kohl haben ihn noch nicht zu nutzen gewusst. Zumindest der Sohn bei Michael Lentz wird aber, so darf man annehmen, mit seiner Freundin aus dem Biertrinken in der Küche gar nicht mehr herauskommen; Beziehungsgespräche, gewiss nicht hämisch gemeint, werden für ihn die selbstverständlichste Sache der Welt sein.
Wenn man an diesem Punkt noch einmal John Lennons Abschiedslied anhört, kann einem eine merkwürdige Ambivalenz auffallen. Es singt hier jemand von Verlusten, aber zugleich auch jemand, der gewillt ist, nicht zu trauern. Der individuelle Abschied mag schwer sein, aber was will man schon von Müttern, die keine Beziehung zu einem hatten? Die deutsche Mutter wird verschwinden wie ein Frauengesicht im Sand. Niemand wird ihr eine Träne nachweinen. Goodbye, goodbye.
DIRK KNIPPHALS, Jahrgang 1963, ist seit 2000 Ressortleiter der taz-Kultur in Berlin
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