: Wiedersehen mit der gestohlenen Jugend
Auf Einladung des Vereins „Kontakte“ besuchen acht Ex-Zwangsarbeiter aus der Ukraine Berlin. Sie warten noch immer auf ihre Entschädigung
von MARKUS MAXIMILIAN POHL
Der S-Bahnhof Grünau am sonnenverwöhnten Morgen des Herrentages: Ein Zug fährt ein und zwischen den Ausflüglern läuft aufgeregt Fiodor Netschipor umher. „Alle aussteigen!“, ruft er und lacht. Der kleine, hagere Mann mit den grauen Haaren und den tiefen Falten im wettergegerbten Gesicht schwelgt in Erinnerungen an seine Jugend. Eine gestohlene Jugend.
Hier, auf diesem Bahnsteig, war er Zwangsarbeiter. Mit 19 Jahren von deutschen Soldaten verschleppt aus dem Dorf Woloschtzcha in der Ukraine, gezwungen zum Arbeitseinsatz für die Reichsbahn in Berlin. Über drei Jahre lang, bis die Rote Armee kam. In Grünau an der Endhaltestelle war es noch am leichtesten. Nicht die mörderische Gleisarbeit wie zuvor in Lichtenberg, sondern Züge sauber machen, Vergessenes einsammeln, eingeschlafene Fahrgäste aus den Abteilen scheuchen. „Alle aussteigen!“ ist einer der deutschen Befehlssätze, die sich in sein Gedächtnis gegraben haben.
Dass der 79-Jährige jetzt noch einmal hier steht, hat er dem Verein „Kontakte“ zu verdanken, der sich für ehemalige Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion einsetzt. Acht von ihnen konnte „Kontakte“ für eine Woche nach Berlin holen. Neben Fiodor sind noch Wladislaw, Boris, Wiktor und als einzige Frau Galina in Grünau mit dabei. „Wir wollen den alten Leuten ein bisschen Würde zurück geben und ihnen finanziell helfen“, sagt „Kontakte“-Geschäftsführerin Renate Krekeler, die die Gruppe begleitet.
Für die alten Leute geht es darum, endlich angemessen entschädigt zu werden. „600 Mark habe ich einmal bekommen“, erzählt Fiodor. Nicht mehr als ein Almosen. Jetzt lebt er von 30 Euro Rente im Monat. Für seinen Anteil an den zehn Milliarden Mark Entschädigungsgeld der Bundesstiftung für Zwangsarbeiter bräuchte er Dokumente, die seine Zwangsarbeit belegen. Dokumente, die Fiodor nicht hat.
„Viele der Zwangsarbeiter wurden nach dem Krieg in der Sowjetunion als Kollaborateure behandelt“, sagt Krekeler. Dokumente über den Aufenthalt in Nazi-Deutschland wollte da niemand aufbewahren. So sind viele der Opfer von damals gezwungen, fast 60 Jahre später mit detaillierten Schilderungen glaubhaft zu machen, dass sie tatsächlich Zwangsarbeiter waren. „Plausibilitätsnachweis“ nennen das die Bürokraten.
Und so steht Fiodor später suchend am S-Bahnhof Spindlersfeld, wo die Holzbaracken standen, in denen er eingepfercht war. Seine blauen, wachen Augen blicken einen Feldweg hinunter, aber von dem Kanal, an den sich Fiodor erinnert, ist nichts zu sehen. Von den Baracken ist, über ein halbes Jahrhundert später, ohnehin keine Spur. „Egal, beim nächsten Mal wirst du sie finden“, sagt Wladislaw. Alle lachen. Sie wissen, dass es kein nächstes Mal geben wird.
Trotz der erlebten Demütigungen: Die Stimmung unter den alten Leuten ist blendend. Bei der Fahrt durch die Stadt freuen sie sich, wenn sie Orte wieder erkennen, tauschen Anekdoten aus. „Sie wollen die Schmerzen nicht zeigen“, sagt Krekeler. Sie hat auch anderes erlebt: Etwa als Galina wenige Tage zuvor in Tempelhof die Kantine wiederfand, wo sie als 15-Jährige zur Arbeit gezwungen worden war. „Sie ist uns regelrecht zusammengebrochen“, erzählt die Geschäftsführerin. Oder als die Gruppe am 8. Mai beim Empfang in der russisch-ukrainischen Botschaft mit Tränen in den Augen die alten sowjetischen Lieder mitsang. Emotionen, die auch aus den Briefen der ehemaligen Zwangsarbeiter an „Kontakte“ sprechen, die am Abend im Roten Salon der Volksbühne verlesen werden. Die 80 Zuhörer erfahren von Transporten in Viehwaggons, grausamen Aufsehern, unvorstellbarem Hunger. Und von den Mühlen der Bürokratie. „Wir denken, dass wir tot sein werden, bis wir Entschädigung bekommen“, heißt es in einem Brief.
Günter Saathoff von der Bundesstiftung, der nach der Lesung spricht, macht die ukrainische Partnerorganisation für die Verzögerungen verantwortlich. „Ich dachte immer, die Hauptarbeit wäre, das Geld zu besorgen“, beklagt er. „Jetzt stelle ich fest, die Hauptarbeit ist, das Geld zu verteilen.“ 881 Millionen Euro stehen für ukrainische Ex-Zwangsarbeiter zur Verfügung, ausgezahlt wurden erst 188 Millionen.
Später, bei Wodka und Partisanenliedern, bekommen Fiodor und die anderen von den Kontakte-Mitarbeitern als Überraschung noch den lang ersehnten Plausibilitätsnachweis überreicht. Die Freude ist überschwänglich, Tränen fließen, Küsse fliegen. Am Sonntagabend, wenn die alten Leute zurück in die Ukraine fahren werden, sind sie ein Stück weiter auf dem langen Weg zur Entschädigung. Aber nicht am Ziel. „Ich weiß von einer Frau, die seit vier Jahren alle Dokumente hat, aber immer noch kein Geld gesehen hat“, sagt Krekeler.
Kontakte-Telefon: 78 70 52 88
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen