: Melancholie und Verlangsamung
Umarme den Türpfosten, verschwinde in der Wand: Mit „Die schöne Müllerin“ nach Franz Schubert war Christoph Marthaler zum Berliner Theatertreffen eingeladen, dem zu viel Theoriekonstruktion und zu wenig sinnliches Erleben vorgeworfen wird
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Das Leben, das Leben; die Kunst, die Kunst. Sie kommen nicht zusammen in der „schönen Müllerin“, die Christoph Marthaler zu den Liedern von Franz Schubert inszeniert hat. Die Musik trägt Sänger und Zuhörer weit, solange sie im Bett liegen bleiben und träumen. Von hier aus ist die Sehnsucht am sichersten auszumalen, von hier aus funkeln die Bilder der Geliebten am schönsten. Als Gebrauchstexte in derNahdistanz angewandt hingegen funktionieren die Lieder nie; der Angesungene erstarrt oder stört die Komposition. Sublimation ist alles, was wir haben.
Schlafwandlerisch und in unzeitgemäßer Langsamkeit zelebriert Marthaler das Einhüllen in Traurigkeit und Todessehnsucht. In einem abgerissenen Ballsaal (Bühne Anna Viebrock) treffen die Singenden aufeinander. Zwei Konzertflügel und ein großes Bett treiben über das Parkett wie Flöße durch das Meer. Unter dem Flügel, unter dem Federkissen, unter dem Teppich, in allen Ecken und Winkeln liegen die müden Körper. Die Füße mit den schweren Wanderschuhen kommen nicht vom Fleck, tippeln gänsefüßchenklein, kriechen gar die Wände hoch. Das Weite, der Bach, der Wald und das Rauschen, von dem sie singen, sind nie zu sehen. Sie umarmen den Türpfosten, flüstern mit den Wänden, versenken Briefe in engen Ritzen. Sie passen sich der Lage an, zur Not auch zu zehnt im Bett. Das Enge zieht sie an.
Der Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ kommt sehr selten aus dem Konzertsaal auf die Bühne. Die Inszenierung von Marthaler, die im Januar in Zürich Premiere hatte, sorgte jetzt auf dem Berliner Theatertreffen für Wiedersehensfreude. Sein physisches Theater der Entschleunigung war mehr denn je koloriert wie aus einem alten Märchenbuch, das Sentimentale aber aufgefangen durch den Mut, es nicht zu verstecken. Das eben unterscheidet seine Regie von einer Aufführungspraxis, die sich des Irrationalen schämt.
Zwischen all den armen Tröpfen in ihren zu knappen Wämsen wandelt die Sopranistin Rosemary Hardy mit turmhohen Haaren und im futeralengen Kleid wie eine Verkörperung des klassischen Liederabends, der streng und domestiziert zu kulturhistorischen Respekt aufruft. Partituren der Verzweiflung birgt sie für alle Fälle in ihrer großen schwarzen Handtasche, und wenn Christoph Homberger, der Tenor, ihr sein „Dein ist mein Herz“ wieder einmal entgegengedonnert hat wie einen Speer, der die Dame auf sicherem Abstand hält, bohrt sie in der Wut auch ihre spitzen Absätze in die Noten. Ihre Stimme aber bleibt zugleich immer souverän und entfacht über dem banalen Toben unten einen virtuos gestalteten Sturm darüber. Ein anderer dagegen, Graham F. Valentine, muss singen, ob er kann oder nicht. Wie ein Papierschiffchen im Unwetter schaukelt seine Stimme auf der Klavierbegleitung, manchmal auch dazwischenstürzend.
Dann ist da neben der Musik noch einer (Stefan Kurt), der lange Gespräche mit einem ausgestopften Auerhahn führt, oft unhörbar leise. Einmal versteht man ihn doch: „Ich bin ein wenig zermürbt, zerstochen, zerdrückt, zerstampft, durchlöchert. Mörser haben mich zermörsert.“ Der Monolog von Robert Walser schiebt das Unglück und den Versuch, es zu ertragen, auf der Achse der Zeit ein wenig weiter auf uns zu. Bei Franz Schubert und Wilhelm Müller sind die Liebesleidenden jung und ihr Schmerz womöglich ein Ritus der Initiation. Das war die biedermeierliche Sicht der Dinge, die Schuberts Interpretationen einengt. Diese Rückversicherung gilt Marthaler nichts mehr. Die Melancholie hält an, wächst gar mit der Zeit. So zerfetzt wie das Bühnenbild, in dem hier und da Schauspieler durch Löcher in der Wandtäfelung fallen, ist die Vereinbarung, weiterzumachen.
Marthalers Bewegungsregie nimmt die Takte der Musik und die Bilder der Lyrik oft wörtlich; doch kehrt sich in der direkten Illustration der Sinn oft um, die Körper erinnern die weitschweifende Einbildungskraft an ihre Abhängigkeit von regelmäßiger Zufuhr von warmer Suppe und Schlaf. Nicht die Verklärung wird wiederbelebt, sondern die Mühe, die in ihr steckt, sichtbar. Marthaler schickt die Kulturgeschichte auf die Couch und freut sich an ihren Versprechern wie an ihren Versprechungen.
Ein größerer Kontrast als zwischen der „schönen Müllerin“ und dem Tanzstück „Alibi“ der amerikanischen Choreografin Meg Stuart, das ebenfalls aus Zürich nach Berlin eingeladen wurde, lässt sich kaum denken. „Alibi“ versetzte dem Publikum des Festivals einen Schock, nicht nur, weil Gewalt und Terror sein Thema sind. Die physischen Energien, die Meg Stuart durch aggressive, bedrohliche, zynische und auch mitleiderregende Aktionen ihres Ensembles aus Tänzern und Schauspielern freisetzt, nageln den Besucher fest im Hier und Jetzt der Aufführung. Es gibt es nur Gegenwart, keine Vergangenheit, keine Zukunft in diesem bestürzenden Geschehen. Es gibt keinen Raum außerhalb, diesmal dringt die Imagination nicht über die Betonwände des Bühnenbildes hinaus. Projektionen und Videobilder steigern zwar unaufhörlich den Input; aber sie bleiben eine Einbahnstraße und darum grausam.
Eingeladen sind zum diesjährigen Theatertreffen zudem Inszenierungen von Stefan Pucher, Frank Castorf, René Pollesch, Stephan Kimmig, Luk Perceval, Nicolas Stemann, Jossi Wieler und Sebastian Nübling. Dem Programm ist vorgeworfen worden, zu sehr auf Konzepte zu setzen und das sinnliche Erleben der theoretischen Konstruktion zu opfern. Bestätigt hat sich dies bisher nicht, im Gegenteil. Die neue Jury mit Georg Diez, Gerhard Jörder, Simone Meier, Gerhard Preusser und Franz Wille sieht sich dem Generalverdacht ausgeliefert, einen Generationswechsel in den Vordergrund gestellt zu haben, und bestreitet das vehement (siehe Interview). Sie holt in dieser Erwartung aber nur ein, was die langjährige Amtszeit der letzten Jury hervorgebracht hat. Rituale sind nicht so schnell zu ändern; für den Eintritt in den Club zahlt man mit der Wiederkehr von Klischees.
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