: Im Licht des achtarmigen Leuchters
von PHILIPP GESSLER
„Zwei, drei Mal habe ich schon so gemacht“, sagt die 16-jährige Berlinerin Judith, zieht das rote Hemd mit dem goldenen Glitzeraufdruck „ITALY STYLE“ auf Höhe ihres Schlüsselbeins kurz hoch, so dass ihre dezente Halskette unter dem Stoff verschwindet: Ein Schmuckstück in der Form des hebräischen Wortes für Leben, „chai“, ist nicht mehr zu sehen.
In manchen Situationen, etwa in der U-Bahn, ist es derzeit besser, nicht als Jüdin erkennbar zu sein. Als ein Mitarbeiter des Berliner Landeskriminalamtes vor kurzem überaus vorsichtig andeutete, Jüdinnen und Juden der Hauptstadt sollten sich vielleicht überlegen, Davidsternketten in der Öffentlichkeit eher zu verbergen, meldete dies der israelische Rundfunk, der Armeesender und die Tageszeitung Ha’aretz – selbst Premier Ariel Scharon thematisierte in Washington den polizeilichen Rat in einer Rede. Der Berliner Innensenator beeilte sich, von einer Fehlinterpretation der Aussagen seines Beamten zu sprechen.
Eine Welle des Rassismus – was sonst? – ist die Erklärung dafür, dass Jüdinnen und Juden in Europa in Angst und Gefahr leben, wenn der Nahostkonflikt eskaliert. Wie immer schwärmen dann in Deutschland Reporter aus, die klären sollen: Wie ist die Stimmung in der jüdischen Gemeinde, was denken deren Mitglieder über Israel? Dabei wäre wohl zuerst zu fragen: Was unterstellt diese Frage? Und warum wird sie immer dann gestellt, wenn der Nahe Osten brennt?
Dass die Familie zunächst anonym bleiben und sich nur nach einigem Zureden fotografieren lassen will, liegt an der Angst der Eltern um ihre Kinder. So berichtet Judith, dass ihre Mutter derzeit nicht mehr schlafen könne, solange ihre Tochter nicht heil aus der Disco nach Hause gekommen sei. Dabei wirkt die Charlottenburger Familie alles andere als ängstlich und zurückhaltend. Dennoch falle es schwer, sich „frei zu äußern“, selbst wenn man Kritik an der gegenwärtigen Politik Israels habe, sagt Judiths ältester Bruder Benjamin (24), Student der Medizin an der Freien Universität in Berlin. Schließlich werde dann allzu schnell getitelt: „Sogar die Juden distanzieren sich von Scharon.“
Er vermeide „unnötige Diskussionen“ über das Vorgehen der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten, um Konflikte zu vermeiden, erklärt Mario, der 50-jährige Vater von Judith und Benjamin. „Man muss auch Distanz halten“, sagt Judith: Einerseits sollten Juden nicht alles toll finden müssen, was Israelis täten. Andererseits: Auch den Antisemiten fehle die nötige Distanz.
Das aber heißt nicht, dass die Familie zu dem jüdisch geprägten Staat Israel nicht ein Gefühl großer Verbundenheit pflegte: Ein Onkel lebe in Jerusalem, ebenso Freunde, zu denen man ständig Kontakt habe. Mehr als 18 Mal war er schon in Israel, erzählt Mario, erstmals 1967. Seine Frau Mirjam fliegt seit 1963 regelmäßig hin. Die Kinder seien schon vor ihrer Geburt im Heiligen Land gewesen, sagt Vater Mario. Benjamin hat einen Teil seiner Famulatur in Israel gemacht. Jonathan (21), Geschichts- und Judaistikstudent an der FU Berlin, arbeitet nebenher bei einer zionistischen Organisation. „Israel geht mich an“, sagt Mutter Mirjam und zitiert in Hebräisch einen Thoravers: „Ein Jude sei für den anderen verantwortlich“, übersetzt sie.
Die Religion spielt im Leben der Familie eine große Rolle – man sei ja eine „jüdische Musterfamilie“, wie Mirjam selbstironisch, aber durchaus treffend sagt. So lehnt sie den zaghaften Vorschlag ab, sich am Schabbatabend, freitags nach Sonnenuntergang, zu treffen: Dieser Abend gehöre dem Frieden und der Familie, und nicht einer Diskussion über den Krieg in Israel. An den Wänden der großzügigen Altbauwohnung hängen viele Bilder mit religiösen Motiven: Fotos der Bar-Mizwas von Benjamin und Jonathan, der Bat-Mizwa Judiths, darüber als großflächiges Foto ein Gemälde des jüdischen Genremalers Moritz Daniel Oppenheim, der das Gebet am Versöhnungstag „Kol Nidre“ festgehalten hat. Darunter steht auf einer Kommode ein Krug und eine Schale für das rituelle Händewaschen vor dem Essen, das Netilat Jadaim. Überall in der Wohnung sind kleine jüdische Accessoires wie achtarmige Chanukkaleuchter und Davidsterne zu entdecken – neulich habe sie ein Buch mit dem Titel „Jewish Kitsch“ durchgeblättert, erzählt Mirjam: „Das sieht ja aus wie bei uns“, habe sie entsetzt festgestellt.
Die Religiosität der Familie ist nicht aufgesetzt – Jonathan war vom Kindergarten an bis zum Abitur nur auf jüdischen Schulen. Der Glaube ist es auch, der das Gefühl der Solidarität mit Israel verstärkt: Nicht nur möglicher Fluchtpunkt sei Israel, das allen Juden weltweit ein Recht auf eine israelische Staatsbürgerschaft zubilligt. Es gebe auch vielfältige Kontakte dorthin, da man ja versuche, „die Integrität einer jüdischen Familie zu erhalten“, wie sich Mario vorsichtig ausdrückt: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist mit rund 90.000 Mitgliedern so klein, dass Ehepartner gern auch in Israel gesucht werden.
Hinzu kommt ganz konkrete Angst: Hat der neueste Bombenanschlag womöglich einen Verwandten getroffen? Jonathan geht möglichst sofort online, sobald er von neuen Anschlägen hört. Um zu überprüfen, ob er den Namen eines Opfers kennt. Am Schabbat bleibe die Kiste aus, sagt Mirjam, denn die Suche nach Nachrichten aus Israel „bestimmt unseren Tag“. „Ich bin schon beruhigt, wenn das Gesicht von Minister Eichel als erste Meldung auf dem Bildschirm erscheint“, erklärt Benjamin: Das bedeute, es habe mal keinen Bombenanschlag gegeben.
Die Frage nach der Politik von Premier Scharon entfacht eine lebhafte Diskussion. Benjamin betont, dass er Scharon wohl nicht gewählt hätte. Jonathan stellt klar, dass man in der Familie nicht jubelnd hinter ihm stehe. Aber einig ist man sich schon, dass angesichts der andauernden Selbstmordattentate auch ohne Scharon wohl kaum eine andere Politik Israels möglich gewesen wäre. Das sei auch, „bis auf Nuancen“, bei der Mehrheit der Politiker Israels Konsens.
Aber auch Resignation klingt durch: Der Besuch Scharons auf dem Tempelberg in Jerusalem, der die zweite Intifada auslöste, sei doch für Jassir Arafat ein „willkommener Anlass“ gewesen, den Friedensprozess zu stoppen, sagt Mario. Und Mirjam fragt: Ist der Vormarsch Israels in die besetzten Gebiete auf der Suche nach Terroristen nicht gerechtfertigt, wenn dadurch weitere Attentate verhindert würden? „Jedes Menschenleben ist wie die ganze Welt“, zitiert sie einen bekannten Thoravers.
Man müsse doch etwas dagegen tun, sagt die Tochter Judith, dass man sich als Israeli nicht mehr getrauen könne, ganz einfach in ein Café zu gehen: „Es geht um einen Staat, der versucht, seine Bürger zu schützen.“ Militärisch, räumt sie gleichwohl ein, sei der Konflikt nicht zu lösen. Sie alle, sagt Jonathan, seien für die Schaffung eines palästinensischen Staates. Die schlechte Lage der Palästinenser sei jedoch kein Grund für die Anschläge auf israelische Zivilisten, meint Mirjam: „Mein Unglück rechtfertigt nicht, dass ich andere Menschen töte.“
Es störe sie, sagt Mirjam, wenn in der deutschen Berichterstattung immer betont werde, dass doch zwei für den Konflikt verantwortlich seien, ja, dass Israel angeblich ein „übersteigertes Sicherheitsbedürfnis“ habe. Benjamin sagt: Je unseriöser das Medium, desto sensationsgeiler die Berichterstattung. Ein vorrückender Panzer sei eben leichter zu zeigen als zerrissene Leichen nach einem Bombenanschlag, sagt Mario. Insofern sei die Berichterstattung leicht tendenziös. „Was hängen bleibt, ist, was Israel tut“, klagt Judith.
Besonders aufregen kann sich Jonathan darüber, dass einem als Jude vorgeworfen werde, man lasse keine Kritik am Staat Israel zu, wenn man versuche, dessen Position zu erklären: Für die Judenfeinde in Deutschland sei der Nahostkonflikt offensichtlich ein Ventil, um scheinbar objektiv ihre Vorurteile gegen Juden abzusondern, meint Jonathan bitter.
Die Debatte landet, wo solche Gespräche in Deutschland wohl enden müssen: Verärgert zeigt sich die Familie darüber, dass der Holocaust nun als Argument gegen die Politik Israels genutzt werde: die „umgedrehte Auschwitzkeule“, wie Jonathan es nennt. Wenn ein deutscher Politiker von einem „Vernichtungskrieg“ gegen die Palästinenser schwadroniere oder in der Sprache dauernd Bezüge auf den Holocaust kämen, frage sie sich: „Was sind die Motive hinter der Kritik an Israel?“, sagt Mirjam.
Offenbar hätten viele in Deutschland Probleme damit, Juden anders als in einer Opferrolle zu begreifen, vermutet Jonathan: „Der Jude, den ich nur aus Auschwitz kenne, sitzt jetzt auf einem Panzer.“ Die gespenstische Diskussion über Bundeswehreinheiten als Teil einer möglichen Friedenstruppe in Israel sieht Mario übrigens ziemlich gelassen: Wenn es denn wirklich eine Aufgabe für eine solche Truppe gebe, könnten auch deutsche Soldaten dort Dienst tun. Die Frage sei nur: Könnte so ein internationaler Einsatz derzeit irgendetwas ausrichten?
Es ist spät geworden. Mario ist aufgestanden, um in einem englischen Gebetsbuch etwas nachzublättern. Das deutsche Judentum ist nicht mehr – und doch gibt der Abend eine Ahnung davon, was es früher einmal gewesen sein mag. Die Namen der Eltern von Marios Mutter sind auf der Steglitzer Spiegelwand zur Erinnerung an den Holocaust verzeichnet, auch Mirjams Großeltern wurden ermordet, wohl in Auschwitz. Ein paar Tage nach dem Besuch bei der Familie berichtet Mirjam von einem Gespräch, das Judith am nächsten Schultag führte: Ein geschichtlich und politisch gebildeter Klassenkamerad habe sie angefahren: „Ihr Juden habt doch unter dem Holocaust gelitten: Warum macht ihr das Gleiche nun mit den Palästinensern?“ Ihre Tochter habe Tränen in den Augen gehabt, als sie davon erzählte. Vor Empörung. Vor Wut.
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