: Auftrag abgelehnt
Zeigen und erinnern, nicht erklären: „Fast ein bißchen Frühling“ von Alex Capus erzählt von zwei Bankräubern und Mördern in der Nazi-Zeit. Morgen liest der Autor aus seinem neuen Roman
von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK
„Zwei junge Männer. Gutangezogene junge Männer in Knickerbockers, teuren Tweedmänteln und mit nach hinten gekämmten Haaren.“ Das sind Waldemar Velte und Kurt Sandweg, 23 Jahre alt, Bankräuber und nach dem Mord an einem Bankfilialleiter in Stuttgart aus Nazideutschland geflohen. Der in der Schweiz lebende Alex Capus hat ihre wahre Geschichte aus Polizei- und Zeitungsarchiven zusammengetragen, mit Zeitzeugen-Gesprächen sowie Recherchen vor Ort angereichert und schließlich fiktionalisiert.
Im Grunde sei dies sein erstes Buch, sagt Capus über das Anfang des Jahres erschienene Fast ein bißchen Frühling, aus dem er morgen im Literaturhaus liest. Schon lange vor der Veröffentlichung seiner Romane Munzinger Pascha (1997), Eigermoenchundjungfrau (1998) und Mein Studium ferner Welten (2001) habe ihn die Story von Velte und Sandweg fasziniert, auf die er während seines Geschichtsstudiums stieß. Doch erst jetzt habe er eine passende Form gefunden.
Den fiktiven Enkel einer Sportartikelverkäuferin in Basel – wohin es die beiden Bankräuber schließlich verschlug – lässt Capus geschickt, in einem undramatischen Präsens und völlig ohne Psychologisierungen erzählen: von dem Traum der beiden, nach Indien zu fahren oder zumindest nach Amerika. Und davon, wie sie es nur bis ins Basler Kaufhaus Globus schaffen. Wo sich Velte in die Schallplattenverkäuferin Dorly Schupp derart verliebt, dass die Flüchtigen entgegen ihrer Pläne in der Stadt bleiben – um jeden Tag eine Tangoplatte zu kaufen, und um mit Schupp und Marie Stifter aus der Sportabteilung spazieren gehen zu können. Bis das wenige in Stuttgart erbeutete Geld ausgeht und sie erneut eine Bank überfallen. Dabei bleibt es nicht bei einem erschossenen Bankangestellten, auf der folgenden Flucht müssen auch noch zahlreiche Polizisten dran glauben. Bis Velte und Sandweg, immer mehr in die Enge getrieben und schließlich von Dorly Schupp in eine Falle gelockt, einander gegenseitig erschießen.
Capus‘ Erzähler färbt seine Worte in der Sprache der Jahre 1933 und 1934, in denen sich die Geschichte ereignet hat. Durch ihn sprechen die Beteiligten, erfährt man viel über deren Blick auf die Welt – nach Interferenzen mit Sprache und Denkweise der Bankräuber sucht man allerdings vergeblich. Zwar werden sie nicht ohne Sympathie als freundliche junge Männer beschrieben, Freunde von jeher, die sich im Auto schlafend auch mal aneinander kuscheln; die sich zu Hause in Wuppertal weigerten, in die Partei einzutreten, um einen Job zu bekommen, und auch sonst aus ihrer Verachtung für die Nazis kein Hehl machten. Doch vom Grundton her hält Capus diesen Text zwischen Räuberpistole und Doku-Fiction lakonisch und neutral. Fast enzyklopädisch häuft er Szenen aufeinander, bis die Frage nach dem Warum der Morde kaum noch auszuhalten ist.
Und dann wirft Capus den Lesern im richtigen Moment ein Stück aus dem Tagebuch von Waldemar Velte hin. In einer wilden Mischung aus Schopenhauer und einem Nietzsche, wie man ihn wenig später im Existenzialismus wiederfinden kann, aus religiösen und sozialistischen Versatzstücken, in einer Sprache, die zugleich misanthrop und humanistisch ist, erklärt sich Velte hier den Sinn seines Lebens und Handelns. Die Krudidität dieser Passage lässt einen ratlos zurück. Und ratlos, so zeigt Capus, sind in ihrer Summe auch die verschiedenen Zeitungen aus Deutschland und der Schweiz, die sich auf der Suche nach Erklärungen mit dem Tagebuch befassen. Ähnlich wie jüngst nach dem Amoklauf in Erfurt klaubt sich jede von ihnen auf der Suche nach Konsequenzen ihrer jeweiligen ideologischen Ausrichtung entsprechend nur Bruchstücke heraus, unfähig, das Ganze zu begreifen.
Und dies Ganze könnte die Zufälligkeit sein, mit der jeder Einzelne sich Erklärungen für sein Tun aus allem Möglichen zusammensetzt. Arbeitslosigkeit kann sich so oder so auf den Einzelnen auswirken, genauso das Gefühl, als Jugendlicher von der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden, das Hören eines bestimmten Musikstils, die Lektüre von Nietzsche ebenso wie Pop im Allgemeinen, Videospiele oder „das Internet“, so ließe sich aus gegebenem Anlass ergänzen: Waldemar Velte und Kurt Sandweg waren einfach Waldemar Velte und Kurt Sandweg, deshalb haben sie gehandelt, wie sie gehandelt haben. Alex Capus jedenfalls hat mit Fast ein bißchen Frühling den Auftrag des Romans, Unerklärliches zu erklären, gründlich zurückgewiesen.
Lesung: morgen, 20 Uhr, Literaturhaus. Alex Capus, Fast ein bißchen Frühling, Residenz Verlag 2002, 175 S., 17,90 Euro
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