: Das Team unserer Tage
Ohne ideologischen Ballast: Die vermeintliche Schwäche der oft genug als „Pillenteam“ verschrienen Bayer-04-Mannschaft, nämlich ihre kurze und kaum ruhmreiche Geschichte, ist tatsächlich ihre Stärke
von GISA FUNCK
Wenn es einmal nicht so läuft
ist eines doch sonnenklar
Wir bleiben und siegen
beim nächsten Mal!“
„Jukebox Heroes“ – Vereinshymne Bayer 04 Leverkusen
Wenn man mit dem Auto nach Leverkusen fährt, findet man die Klischees, die über die nördlich von Köln gelegene Stadt kursieren, auf den ersten Blick bestätigt. Eingerahmt von zwei Autobahnen, sind die Wahrzeichen jener zwei Bereiche weithin sichtbar, für die die Metropole bundesweit bekannt ist: Chemie und Fußball. Die riesige Bay-Arena kann man da sehen, das Bayerkreuz mit seinen exakt 1.710 Glühbirnen und – etwas weiter – die Dhünnaue, eine zum Hügel aufgeschüttete Mülldeponie.
In den 50er-Jahren hat die Kommune dort ihre Altlasten entsorgt. In den 60er-Jahren kippte das Chemiewerk seine Gifte dazu. So stand das Gelände bald für einen traurigen Rekord. Es galt als eine der größten verseuchten Halden Europas. Inzwischen wurden die Bewohner umgesiedelt und hat man das Terrain für Millionen von Mark rekultiviert. Nichtsdestotrotz haftet Leverkusen auch heute noch das Image einer gesichts- wie geschichtslosen Industriestadt an, die den Sport zur Entspannung braucht wie der Malocher sein Feierabendbier. Dass nun ausgerechnet die oft genug als „Pillenteam“ verschriene Bayer-04-Mannschaft in dieser Saison den schönsten Fußball bot und dazu noch laufend Spiele, die von ihrer Dramatik her an griechische Tragödien heranreichten, das mag zunächst so gar nicht zum scheinbar schnöden Hintergrund passen. Wirkt die millionenschwere Profitruppe aus einem halben Dutzend verschiedener Länder doch ähnlich willkürlich zusammengesetzt wie ihre Umgebung. Auf dem Weg ins Zentrum entdeckt man gleich dutzendfach die Zeichen einer Konzernherrschaft. Es gibt ein „Bayer“-Kaufhaus, ein von Bayer betriebenes Carl-Duisberg-Bad, ein Bayer-„Erholungshaus“ samt Theater- und Konzertsaal. Und es gibt hunderte von rot angestrichenen Werksfahrrädern, die die Arbeiter nicht nur dienstlich nutzen, um auf dem 3,4 Quadratkilometer großen Firmenareal hin und her zu pendeln. 33.000 Menschen arbeiten „beim Bayer“, wie man hier sagt. Das sind immerhin fast ein Fünftel der 162.000 Einwohner.
Und Leverkusen, das ist ein urbanes Konstrukt, am Reißbrett entworfen und erst 1930 zur Stadt ausgerufen, indem man die Dörfer der Umgegend zusammenfasste. Noch heute spiegelt sich das in einer dezentralen Struktur wider. Während die Viertel ihren dörflichen Charakter großenteils bewahren konnten, stößt man im Innern auf einen Kern aus Beton, der die schaurig-funktionale Handschrift einer Siebzigerjahre-Architektur trägt. Auf ungemütlichen Steinplatten lungern allenfalls Jugendliche herum. Das Rathaus gleicht in seinem Grau zu grünem Blechaufdruck eher einer Gesamtschule. Und nur per Überführung, die viel zu wohlklingend „Rialto-Brücke“ heißt, kann man die mehrspurige Verkehrsstraße passieren, die zum Bahnhof führt. An dieser Stelle wird Leverkusen tatsächlich dem Vorurteil einer Bausünde gerecht. Allerdings nur hier.
Denn nicht nur die Stadtteile wirken mit ihren Altbauten, Bäumen und Gärten idyllischer, als man vermutet. Auch die Dhünnaue blüht inzwischen so hartnäckig, dass 2005 auf ihr sogar die Landesgartenschau stattfinden soll. Und fußballerisch ist Leverkusen schon seit längerem für Überraschungen gut. Zeichnet sich Bayer 04 doch eben durch jene Tugenden aus, die man (wenn überhaupt noch im Profigeschäft) eigentlich eher von anderen erwartet. Risikobereitschaft, Teamgeist, Kampfeswillen – davon handelt jede Fußballhymne. Aber besonders benachbarte Spitzenclubs wie Schalke 04 und Borussia Dortmund werden nicht müde, das Bild vom aufrechten Ruhrpottkicker zu beschwören, der bis zum Umfallen rackert. Ein Bild, das in Zeiten der Globalisierung natürlich längst nicht mehr stimmt. Da mag Huub Stevens im „Aktuellen Sportstudio“ zum Gewinn des DFB-Pokals noch so lautstark betonen, dass er – ganz proletarisch – nicht mit Sekt, sondern „mit Bier, in Schalke trinkt man Bier!“, feiert: Die Zechen sind im Zuge des Strukturwandels verschwunden.
Und lange schon entscheidet nicht die Kumpelmoral, sondern das Geld, wer in der Bundesliga oben steht. Daraus hat Bayer 04 nie einen Hehl gemacht. Die Fans honorieren das. Wenn Leistungsträger wie jetzt Michael Ballack aus finanziellem Kalkül verkauft werden, hat man dafür Verständnis. Gert Wölwer von den Grünen, der nebenbei Leverkusens ältesten Fanclub leitet, jedenfalls ist überzeugt: „Mit der Tradition, das passt heute nicht mehr. Die ist kein Verdienst so wie das Alter.“ In dieser Perspektive avanciert die vermeintliche Schwäche Leverkusens, nämlich seine kurze und kaum ruhmreiche Geschichte, geradezu zu einer Stärke. Eine Mannschaft ohne ideologischen Ballast und lokale Verankerung kann frei aufspielen und unverkrampft genau das „Herz“ zeigen, das man bei der Konkurrenz häufig vermisst. Toppmöllers Legionäre geben damit die optimale Projektionsfläche ab für ein neues Identitätsgefühl im Fußball, das sich nicht weiter an die leidige Frage einer Herkunft knüpft. Umso mehr gilt für das Champions-League-Finale, was Bild bereits ungewohnt treffend zur deutschen Meisterschaft formulierte: „Heute sind wir alle Leverkusener!“
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