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Wo Generäle Wahlkampf machen

aus Bagram JAN HELLER*

Systematischer Beschuss hat die meisten Lehmhäuser in Ruinen verwandelt, die in Wind und Wetter vor sich hin erodieren. Dazwischen rosten die Gerippe abgeschossener Panzer. Im Basar von Bagram stehen die meisten der aus Brettern und Blechen zusammengebauten Buden leer. „Die Leute leben als Flüchtlinge in Kabul“, sagt ein Anwohner.

Mehr als drei Jahre lang war der Ort 35 Kilometer nördlich der afghanischen Hauptstadt die Hauptkampflinie zwischen den Taliban und der damals in einer Ecke Nordost-Afghanistans eingeklemmten Nordallianz, die jetzt die Kabuler Übergangsregierung dominiert. Auch in der umliegenden, einst so fruchtbaren Schemali-Ebene herrscht Trostlosigkeit. Die Obstgärten, die einst Kabul versorgten, sind abgeholzt. In den Weinstöcken ragen über weite Flächen nur verkohlte Stümpfe in die Luft, dazwischen sind tausende Minen vergraben. Die Taliban hatten in Kabul Menschen von der Straße zwangsverpflichtet, die die Reben mit Benzin besprühen und niederbrennen mussten – Rache für einen Aufstand der örtlichen Bevölkerung, der die Taliban vor drei Jahren zwischenzeitlich vertrieben hatte.

Aber es gibt Zeichen der Hoffnung. Minenräumer der UN und von Nichtregierungsorganisationen haben ihre Zelte aufgeschlagen. Dort, wo sie ihre Arbeit beendet haben, richten zurückgekehrte Flüchtlinge ihre Häuser und Felder wieder her. Provisorische Läden, oft in Schiffscontainern untergebracht, bieten Lebensmittel und anderen Grundbedarf feil. Auch der afghanische Friedensprozess hat die Schemali-Ebene erreicht: Die Wahlen zur Loja Dschirga, der großen Ratsversammlung, die am 10. Juni in Kabul zusammentreten wird, haben begonnen. Doch hier, in der Hochburg der Nordallianz, stoßen die Organisatoren von der Unabhängigen Loja-Dschirga-Kommission und ihre UN-Berater auf Probleme.

Ein Sonnabend in Bagram. Im Hof vor dem zerstörten Schulgebäude versammeln sich bei strahlendem Sonnenschein etwa 500 Menschen für die erste Abstimmungsrunde. Eine Art Wahlmännergremium – Frauen lassen sich bei der Wahl in Bagram nicht blicken – von 20 bis 50 Mitgliedern soll bestimmt werden, aus dem dann in einer zweiten Phase in geheimer Wahl diejenigen fünf Personen in geheimer Wahl bestimmt werden sollen, die den Distrikt im Juni in der Loja Dschirga vertreten sollen.

Weißbärtige Stammesälteste und kampferprobte Mudschaheddin mit dem Pakol, der runden Filzmütze ihres ermordeten Anführers Ahmed Schah Massud, hocken im Kreis im Schatten von Maulbeerbäumen. Ein klappriger Mullah erklärt ihnen über Handlautsprecher, gespickt mit arabischen Koranzitaten, dass der Prophet diese Art von Ratsversammlungen empfiehlt, um Probleme zu lösen. Dann lauschen sie Sebghatullah Sandschar. Der 36-jährige Offizier mit dem pechschwarzen Schnauzbart arbeitet für das Innenministerium. Er vertritt in Bagram die Loja-Dschirga-Kommission und legt die Wahlregeln dar. Inzwischen sind ein schwarzer Mercedes und ein roter Landcruiser mit getönten Scheiben vorgefahren. Heraus steigen zwei vierschrötige Gestalten, einer nach örtlicher Mode mit einem weiten Hemd und einer weiten Hose sowie mit dem Pakol bekleidet, der andere in einem blauen Anzug, der wohl vor 25 Jahren einmal modern war: General Hadschi Almas und General Baba Dschan.

Ein früherer Schlächter

Almas, ein ehemaliger Schlächter, war im Dschihad gegen die Sowjets zum Befehlshaber über eine mächtige Mudschaheddin-Phalanx aufgestiegen und kommandiert heute das Armeekorps in der Provinz Parwan, zu der Bagram gehört. Baba Dschan hingegen verdiente sich seinen Rang zur sowjetischen Besatzungszeit in der Regierungsarmee. Nachdem die Sowjets abgezogen waren, verbündete er sich mit Massud, und die Nordallianz reaktivierte ihn vor zwei Jahren mit russischer Hilfe, als die Taliban drohten, auch noch ihre letzte Hochburg, das Pandschirtal, zu überrennen. Heute befehligt er die 40. Infanteriedivision, die den Militärflughafen Bagram bewacht, auf dem die britischen und US-Alliierten ihr Afghanistan-Hauptquartier eingerichtet haben.

Almas und Baba Dschan begeben sich sofort zum Podium, das aus harten Schulbänken improvisiert worden ist, als ob dort ihr Stammplatz sei. Dabei sind sie doch heute normale Wähler wie die vor ihnen Hockenden. Aber die symbolische Geste macht auchklar, dass hier kein Zweifel herrschen soll, wen Volkes Stimme wählen wird. Almas und Baba Dschan wollen in die Loja Dschirga. Ebenso symbolisch bittet einer der afghanischen Wahlhelfer beide, das Podium wieder zu verlassen und sich unters Volk zu mischen. Langsam lädt sich die Stimmung auf. Sandschar von der Loja-Dschirga-Kommission erklärt, dass die Wahlkriterien es nicht zulassen, dass aktive Generäle im selben Distrikt kandidieren, in dem ihre Einheit stationiert ist. Da platzt Baba Dschan der Kragen. Er marschiert wieder nach vorn, schnappt sich den Lautsprecher und verkündet, „das Volk“ wolle, dass ihre Kommandanten sie in der Loja Dschirga vertreten.

Als Sandschar auch noch eine vorgefertigte Kandidatenliste zurückweist, ruft Baba Dschan: „Diese Wahlen sind einseitig!“ Auf dieses Signal treten bestellte Claqeure in Aktion, die schon vor der Veranstaltung in den Ecken des Schulhofes fleißig Instruktionen ausgeteilt hatten. Sie fordern die Anwesenden auf, unter Protest den Schulhof zu verlassen. Die meisten folgen. Kaum jemand hat den Mut, den Kommandeuren zu widersprechen, die mit den Kalaschnikows ihrer Kämpfer nach wie vor die Macht in weiten Teilen des Landes ausüben. Denn die internationale Gemeinschaft treibt die Entwaffnung der ehemaligen Kämpfer nicht voran. Trotz der Milliardenversprechen der Geberländer fehlen immer noch Alternativprojekte, die die ehemaligen Kämpfer ins Zivilleben locken können.

Was in Bagram geschieht, wiederholt sich auf ähnliche Weise derzeit in vielen Gebieten Afghanistans. Da lässt ein Distriktgouverneur in Badghis Abgesandte der Loja-Dschirga-Kommission nicht in seinen Einflussbereich, obwohl er von derselben Administration ernannt wurde, deren Vorsitzender Hamid Karsai der Loja Dschirga jegliche Unterstützung zugesagt hat. Da lässt der Gouverneur der Westprovinz Herat, Ismail Khan, trotz rhetorischer Bekenntnisse zur Loja Dschirga, Intellektuelle verhaften oder anderweitig drangsalieren, die als Anhänger des zurückgekehrten Exkönigs Sahir Schah bekannt sind. Da verpflichtet der Kabuler Gouverneur Tadsch Mohammed lokale Größen darauf, nur für Kandidaten zu stimmen, die von ihm persönlich abgesegnet worden sind. Da weigert sich schließlich ein Dorf in der Provinz Ghasni, an den Wahlen teilzunehmen.

Propaganda und Zensur

Der „Überwachungsrat“, die von Massud gegründete Militärorganisation der Nordallianz, leistet ganze Arbeit. Gestützt auf eine landesweite duale Struktur in „Staat und Partei“ läuft seine Propagandakampagne gegen die Loja Dschirga auf Hochtouren. Parole: Die UN und ihre Handlanger wollen die Mudschaheddin um die Früchte ihres Kampfes bringen. Kein Wort davon, dass dieselben Mudschaheddin nach dem Abzug der Sowjets raubten, brandschatzten und mordeten, bis viele Afghanen in den Taliban ihre Retter zu sehen glaubten. Gleichzeitig wurden die vom „Überwachungsrat“ kontrollierten staatlichen Medien angewiesen, nicht mehr über die Loja-Dschirga-Vorbereitungen zu berichten.

In Kabul koordiniert eine Art Politbüro der Organisation die Kampagne. Ihr sitzt Ingenieur Mehdi vor, die Nummer vier oder fünf im „Überwachunsrat“. Graue Eminenz ist Massud-Bruder Ahmed Wali, der die Nordallianz über Jahre in London vertreten hat und nun nach Afghanistan zurückgekehrt ist. Er soll mit dem Namen seines Bruders werben und Präsidentschaftskandidat in der Loja Dschirga werden. Verantwortliche in den acht von der UN festgelegten großen Wahlregionen verteilen in großem Maßstab Geld, üben Druck auf Konkurrenten aus und arbeiten Listen aus, die wie in Bagram den Wahlorganisatoren aufgezwungen werden sollen. Angebliche Taliban- oder al-Qaida-Flugblätter kursieren, wahrscheinlich Fälschungen zur psychologischen Kriegsführung. In den Provinzen fürchten Kandidaten demokratischer Gruppen und unabhängiger lokaler Stammesräte um ihr Leben. Auf dem Kabuler Basar kursieren Gerüchte, die Mitglieder der Loja-Dschirga-Kommission seien zur Entführung freigegeben.

Sandschar hält dem Druck in Bagram stand. Er bricht das Wahltreffen ab. Seine Kommission muss nun entscheiden: Entweder sie holt die Wahl in einigen Tagen nach oder sie kann, erlauben das die Sicherheitsbedingungen nicht, die fünf Bagramer Loja-Dschirga-Abgeordneten ernennen. Der mutige Herater, der weder vor dem Mudschahedin- noch vor dem Taliban-Regime ins Ausland geflohen ist, hat seit Sonnabend zwei neue mächtige Feinde im Generalsrang.

* Der Autor hält sich seit längerem in Afghanistan auf und arbeitet dort für eine internationale humanitäre Organisation

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