: „Wo sind die Sitzlinge?“
Lehrer, die wir laufen ließen (letzte Folge). Heute: Ich war einer von ihnen, ein Wochenende lang
Kutzmutz ist an allem schuld. Kutzmutz, Dr. Olaf Kutzmutz, von der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel. Er sprach mich an. Ob ich nicht ein Seminar geben könne. Wie man Kolumnen und Glossen schreibt. Hmmh. Warum sollte ich das tun? Ich bin kein Lehrer, ich fühle mich nicht berufen. Mein Vater war Lehrer, mein älterer Bruder ist es noch. Das pädagogische Potenzial der Familie sollte damit ausgeschöpft sein. Aber Herr Kutzmutz, der Fachbereichsleiter Literatur, ist sehr freundlich. Und hartnäckig. Und der Termin, den er vorschlägt, ist noch so weit weg. Über ein Jahr noch. Das klingt ungefährlich. Und dann heißt Herr Kutzmutz eben Kutzmutz. Wenn einer Kutzmutz heißt, wird er das Wort nein nicht oft hören müssen. Kutzmutz bittet, und die Welt willfährt.
Ich jedenfalls willfuhr und sagte zu. Das Jahr verging äußerst rasch, und plötzlich saß ich im Zug nach Wolfenbüttel. Lehrer für zwei Tage sollte ich sein, von Freitagnachmittag bis Sonntagmittag. Und das im Mai 2002, wo doch nichts mehr war wie früher! Ja, früher, da war alles einfach. Seit dem 11. September 2001 ist ja alles so was von ganz anders, aus jedem Kopf heult und quasselt es heraus, Verstand, soweit noch vorhanden, wurde als Grabgebinde fortgeworfen. Dann aber lief ein Erfurter Schüler Amok, und schon wieder ist nichts mehr, wie es nie war. Die ausgestellte Trauer durchreisender Wahlkämpfer allerdings wurde tatsächlich noch dicker und öliger aufgetragen als üblich.
Und in solchen Zeiten wollte ich, wenn auch nur für ein Wochenende, ein Lehramt antreten? War ich lebensmüde? Focus, das Magazin für avancierten Frettchenjournalismus, titelte: „Die Angst der Lehrer – Wie Pädagogen die Schule als täglichen Albtraum erleben“. Das organisierte Selbstmitleid war zum Speien. Andererseits: Ist es nicht begrüßenswert, dass Leute wie Helmut Markwort jetzt Angst vor Kindern haben? Zur Einstimmung auf meine Arbeit las ich Elias Canetti, „Masse und Macht“, das Kapitel über den Befehl:
„Die Befehlsempfänger, denen am gründlichsten mitgespielt wird, sind Kinder. Dass sie unter der Last von Befehlen nicht zusammenbrechen, dass sie das Treiben ihrer Erzieher überleben, erscheint wie ein Wunder. Dass sie es alles, nicht weniger grausam als jene, später an ihre eigenen Kinder weitergeben, ist so natürlich wie Beißen und Sprechen. Aber was einen immer überraschen wird, ist die Unverletztheit, mit der sich Befehle aus der frühesten Kindheit erhalten haben: Sie sind zur Stelle, wenn die nächste Generation ihre Opfer vorschickt. An keinem Befehl ist ein Jota anders geworden; sie könnten vor einer Stunde erteilt worden sein, und doch ist es in Wirklichkeit zwanzig, dreißig oder noch mehr Jahre her. Die Kraft, mit der das Kind Befehle empfängt, die Zähigkeit und Treue, mit der es sie bewahrt, ist nicht ein individuelles Verdienst. Intelligenz oder besondere Begabung haben damit nichts zu schaffen. Jedes, auch das gewöhnlichste Kind, verliert und vergibt keinen der Befehle, mit denen es misshandelt wurde.“
Fuhr ich nach Wolfenbüttel, um mich zu rächen? Für Lehrer, die in der ersten Stunde des neuen Schuljahrs grinsend vor die Klasse traten und fragten: „Wo sind die Sitzlinge? Sitzlinge heißen Sitzlinge, weil sie bei mir in der ersten Reihe sitzen. Hahaha!“ Und dann mussten, unter dem triumphierenden Feixen solcher Pädagogen, die im Vorjahr sitzen gebliebenen und neu in die Klasse gekommenen Schüler in die erste Reihe umziehen, vor den Augen aller anderen. Nur darum ging es: demütigen, klein machen, kaputtkriegen, das Mütchen kühlen. Ich habe das nicht selbst aushalten müssen, aber allein dabeizusitzen und zu erleben, wie jemand gebrochen werden sollte und brach, reicht für ein ganzes Leben. Das vergisst man nicht, und das verzeiht man nicht. Wozu auch?
Wir haben sie laufen lassen, alle. Wir schossen nicht und hätten’s, außer in Gedanken, auch nie getan. Waren wir so großartige Humanismuskandidaten, randvoll mit all den guten Werten, über deren Verlust jetzt so gejammert wird? Keine Spur. Wir wussten aber: Das Leben ist, trotz solcher Quäler, doch viel zu verheißungsvoll, um es sich für immer zu versauen. So befreiend es gewesen wäre – das war es nicht wert. Die Typen überleben und dann nichts wie weg, so ging es. Nicht alle Mitschüler haben das geschafft, einige blieben auf der Strecke, zur Strecke gebracht.
In Wolfenbüttel traf ich auf elf Erwachsene, darunter Herrn Kutzmutz, der für mich das Seminar leitete. Er machte den bösen Bullen, ich den guten. Sünden der Pädagogik wurden keine begangen, ich rächte mich für nichts, nicht einmal an einem Kursteilnehmer, der mir so unsympathisch war wie ich ihm. Der Mann war ein pensionierter Lehrer. WIGLAF DROSTE
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