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ulrike herrmann über Non-Profit Small-Talk-Entrückung im Speisewagen

Wie zwischen Mannheim und Berlin wenigstens mein alter Apfel und Guido Westerwelle zueinander kamen

Auch ein Apfel kann berühren. Aber das wusste ich vor vier Tagen noch nicht. Damals war mir nur klar, dass ich ganz schnell in das Speiserestaurant vorpreschen musste, wenn ich im überfüllten ICE überhaupt noch einen Sitzplatz erwischen wollte.

Und, ha, es gab noch genau einen freien Stuhl beim Mitropa-Team – und, ha, meine blaue Reisetasche passte genau unter den Sitz. Ha, ich jedenfalls war angekommen, während sich im Outer Space, durch die ICE-Fensterscheiben bestens zu sehen, immer noch die Menschenmassen auf dem Bahnsteig drängelten.

Als dieses Ha-Gefühl langsam verflog, blickte ich herum und sah mein Gegenüber an diesem kuscheligen Zweiertisch. Eigentlich sah ich nur seine Augen, große, braune Augen, die an die von Pim Fortuyn erinnerten. Von ihm sagen ja viele Niederländer, die ihm begegnet sind, dass seine Augen so leuchtend, so intensiv waren, dass man eigentlich eine Sonnenbrille hätte tragen müssen, wenn man mit ihm sprach.

Ich wusste sofort, dass ich mit diesen braunen Augen sprechen wollte. Und erstaunlicherweise wollten sie sich auch mit mir unterhalten. Also galt es, den Status der Beziehung zu klären, die noch keine war. Es ist immer wieder überraschend, mit welcher virtuosen Minimalistik geübte Small-Talker innerhalb von drei Minuten einfließen lassen können, dass zu Hause ein kleines Kind auf sie wartet. Irgendwie passt diese Mitteilung immer. Und danach kann man sich dann gemeinsam betrinken.

Erste Small-Talk-Standardfrage: „Waren Sie auch in …?“ Diesmal war es Mannhein, und da bot sich der FDP-Parteitag als weiteres Thema an.

Also war auch die Kanzlerkandidatenfrage unvermeidlich. Nach der ersten Flasche Wein (in der Mitropa-Minigröße) hatten wir ausgearbeitet, dass sich Westerwelle auch noch als Papst bewerben sollte: „Dann hat er alle Katholiken hinter sich.“ Oder er könnte gelegentlich BHs tragen, um die Frauen stärker zu überzeugen.

„Finden Sie nicht auch, dass sich Westerwelle und Roland Koch ähnlich sehen?“ Das hatte ich mir zwar noch nie überlegt, aber – ein kleiner Schluck – natürlich!

Ungefähr zu dieser Zeit dürfte mein Apfel ein erstes Kontaktangebot von Westerwelle angenommen haben. Aber in jenem Moment vor vier Tagen wusste ich davon noch nichts. Damals, im Zugrestaurant, waren wir schnell beim dritten Small-Talk-Thema, das sich aufdrängte: die SPD und ihre traurige Gestalt. „Wir in Deutschland“ – was ist denn das für ein Slogan? Das klingt ja, als ob es auch das Gegenteil gäbe: „Wir nicht in Deutschland“! Oder warum plakatiert man dann nicht gleich „Wir nicht in Togo“?

Nach der dritten Flasche Wein trafen wir in Berlin ein. Beide waren wir wieder um eine Visitenkarte reicher, die von nun an in einer Schreibtischschublade verstauben wird.

Das ist jedes Mal bedauerlich, jedenfalls ungefähr zweihundert Meter weit, bis der Fahrkartenautomat der S-Bahn erhöhte Konzentration erfordert. Und gerade als ich nach der 1-Euro-Münze suchte, die nie da ist, wenn man sie braucht, fiel es mir auf: Meine blaue Reisetasche war weg!

Bestimmt kuschelte sie sich immer noch beim Mitropa-Team, sicher verwahrt „unter dem letzten Sitz rechts, bei den Zweiertischen, ganz in der Nähe der Tür“. So jedenfalls versuchte ich diversen Bahn-AG-Abteilungen am Telefon zu erklären, wo ich fünf Stunden lang so Small-Talk-entrückt war, dass ich meine wichtigste Begleiterin vergessen hatte. Aber ob beim Fundbüro in Berlin-Schönefeld (gar nicht zuständig), der Aufsicht im Ostbahnhof (zuständig), der Reinigungsbrigade in Rummelsburg (nicht erreichbar) oder dem zentralen Fundbüro in Wuppertal (demnächst zuständig): Meine blaue Reisetasche blieb bisher verschwunden.

Ich sehe sie vor mir, wie sie gemütlich die letzten Bahnkilometer zurücklegt. Immer wieder werde ich amtlich gefragt: „Was ist denn drin?“ Tja, also: Wäsche natürlich, der äußerst wichtige Akku fürs Handy, mein Reisewecker. Und dann ist da eben noch ein Apfel, der schon in Mannheim nicht mehr ganz frisch war. Wenn ich mich richtig erinnere, ruht er direkt neben dem Werbematerial der FDP. Und so stelle ich mir vor, wie er langsam seine Säfte aussendet, um endlich Westerwelle zu erreichen. Oder zumindest sein Bild. Ich stelle mir vor, wie der Apfel ihn schließlich berührt, ihn küsst und nass erweicht. Wie beide immer mehr aneinander kleben. Wie sie – typisch für jede Beziehung – aufeinander abfärben und immer grauer werden. Doch ihnen wird es gelingen, anders als manchem Paar, ihre Reise miteinander verschmolzen zu beenden – und wenn es nur im Mülleimer ist.

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