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Recht entscheidet, was gerecht ist

Seit Anfang des Jahres gelten neue Kriterien für die Grundschulgutachten. Die rechtswirksame Einstufung wird mittels der Durchschnittsnoten in der 5. und 6. Klasse errechnet. Kritiker sehen darin ein pädagogisch fragwürdiges Ausleseverfahren

von PETER HERMANNS

Deutschland steht noch unter Pisa-Schock, da steigt zumindest in Berlin die Zahl der Gymnasiasten sprunghaft an. Das Landesamt für Statistik meldet bei den Gymnasien einen Zuwachs der Anmeldezahlen um durchschnittlich 10 Prozent. Besonders signifikant sind die Zahlen in den Ostbezirken, bei denen Pankow und Treptow-Köpenick mit einem Plus von 17 Prozent die Spitzenplätze einnehmen.

Doch ob es sich hierbei um eine Erfolgsstory der Berliner Schulpolitik handelt, ist fraglich. Nicht wenige Fachleute vermuten, dass mit dem neuen Grundschulgutachten, das seit Anfang dieses Jahres verbindlich ist, die Zahlen künstlich hochgepuscht wurden. Bislang hatten Grundschullehrer die Möglichkeit, in der Zensurenfindung beispielsweise besondere Anstrengungen eines Schülers zu berücksichtigen, ohne dass dies Einfluss auf die Schullaufbahnempfehlung hatte. Jetzt hat das Instrument unmittelbare Konsequenzen: Die in drei Schulhalbjahren ermittelten Notendurchschnitte binden die Lehrer an eine rechtswirksame Einstufung.

Während andere Länder wie das „Pisa-Vorzeigeland“ Finnland Lehrer dazu ausbilden, differenzierte diagnostische Verfahren zur Erhebung der Lern- und Sozialkompetenzen ihrer Schüler anzuwenden, setzt Berlin auf ein pädagogisch fragwürdiges Ausleseverfahren, das den Wunsch nach Kriterien für eine rechtlich unangreifbare Aussortierung befriedigt. Ansonsten dürfte es aber eher Schaden anrichten.

„Scheinobjektiv“ nennt die Berliner Grundschullehrererin Marlies Joepen das Gutachten und fügt hinzu, dass vor allem „Kindern mit schwierigem sozialem Hintergrund der Weg verbaut“ werde. „Sie sind die Gelackmeierten, denn sie bringen in der Grundschule vielleicht noch nicht die Noten für eine Gymnasialempfehlung, oft aber die Anstrengungsbereitschaft mit, um sich zu behaupten“. Die hilft ihnen nun nicht mehr.

Diese Ansicht teilt auch Thomas Isensee, in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Referent für Schulpolitik: „In keinem entwickelten Industrieland ist die soziale Auslese so hoch wie bei uns.“ Durch das neue Verfahren werde diese Tendenz noch untermauert: „ Die Schulart wird jetzt de facto vorgegeben und damit die Zukunftschancen bereits nach der 6. Klasse verteilt.“

Ganz anderer Meinung sind die Elternverbände und Silvia Wagner-Welz von der zuständigen Senatsverwaltung. In einer Sitzung der AG Grundschule des Landeselternausschusses warnte Wagner-Welz zudem davor, die Grundsatzdiskussion um Noten an dem neuen Gutachten zu führen. Schüler hätten bei einer Entscheidung für ihre Schullaufbahn ein Anrecht auf eine “gerechte“ Beurteilung. Doch weil es Juristen waren, die sich in diesem Fall die Interpretationshoheit über den Begriff „Gerechtigkeit“ weitgehend gesichert haben, bewahrheitet sich die aristotelische Erkenntnis: „Das Recht entscheidet, was gerecht ist.“

Leider bleibt das Recht aber Antworten schuldig, wenn es um Fragen aus den „pädagogischen Niederungen“ geht – etwa um Belastungen Alleinerziehender, um fehlende Bildungsanreize und vieles mehr. Kinder, die so geprägt sind, erbringen nicht immer die sozialen Anpassungsleistungen, die ihnen zu guten Zensuren verhelfen. Ihnen bleibt eine „gerechte“ Beurteilung versagt.

Skepsis herrscht aber auch bei denjenigen, die sich über die gestiegenen Anmeldezahlen eigentlich freuen müssten. „Dieser Formalismus hilft uns nicht weiter“, sagt Ute Ebert von der Tiergartener Menzel-Oberschule, die im Übrigen mit der Aussagefähigkeit der früheren Gutachten hoch zufrieden war. Ihre Schulleiterkollegin Heidemarie Müller von der Archenhold-Oberschule in Treptow befürchtet ein „Drama“ nach dem Probehalbjahr: „Bei manchen Kindern sind Schlüsselqualifikationen wie Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft noch nicht ausreichend entwickelt.“ Sie müssten ihre gymnasiale Karriere dann kurzerhand beenden.

Um solche Konsequenzen zu vermeiden, hat die Erich-Fried-Oberschule in Friedrichshain einen neuen Ansatz entwickelt: Sie richtete eine Schreibwerkstatt ein, in der Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit der angemeldeten Schüler mit Hilfe von Schreibübungen trainiert werden. Immerhin 15 Freiwillige kamen zum ersten Termin.

Doch ob die „Pädagogik des 18. Jahrhunderts“, wie Schulleiterin Heidi Antal das Instrument selbstironisch nennt, ein wirksames Mittel gegen den Bildungsnotstand ist, darf bezweifelt werden.

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