: Die neue Mitte – ein Selbstbetrug
1Seit die Bundestagswahl am 22. September in erkennbare Nähe rückt, ist der Kampf um die „Mitte“ von den Parteien mit neuer Energie wieder aufgenommen worden. Die Union versucht sich von jeglichem Geruch einer Orientierung nach rechts zu befreien und Stoiber als moderaten, integrierenden Politiker der Mitte zu präsentieren. Die SPD hat sogar einen eigenen Kongress zum Thema „Die Mitte in Deutschland“ veranstaltet, auf dem Gerhard Schröder sein Konzept von der SPD als Verkörperung der politischen und sozialen Mitte erneut dargelegt hat.
Aus diesem Text kann man einiges lernen: über das Selbstverständnis der SPD, die sich nach einem Jahrhundert der Existenz am Rande des Mainstreams, von Bismarck bis Adenauer, endlich auf dem sicheren Platz in der Mitte angekommen glaubt. Man lernt aber auch etwas über voreilige Selbstzufriedenheit, mit der diese Ankunft nun zelebriert wird.
Schröder begann seine Rede auf dem Mitte-Kongress mit einer persönlichen Bemerkung über seine eigene soziale Herkunft, die außerhalb der ökonomisch gesicherten „Mitte“ der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft lag, vielmehr „am unteren Ende, vielleicht sogar am Rande der Gesellschaft“.[1]
Man reibt sich die Augen: Die SPD spricht tatsächlich die kleinen Leute an; und sie erinnert an die Zähigkeit der klassengesellschaftlichen Strukturen, die nur durch harte individuelle Leistung, vor allem aber – so Schröder aus eigener Erfahrung – durch Bildung zu überwinden waren.
Aber anstatt die Einsicht, dass die Mitte „ja zuallererst eine soziale Kategorie ist“, weiterzuverfolgen, wird die „persönliche Bemerkung“ rasch abgeschlossen. Mit der jetzigen SPD-Politik hat sie anscheinend nicht viel zu tun. Denn wir haben, so scheint es, einen Idealzustand erreicht, in der die Mitte der Gesellschaft nicht mehr durch soziale Herkunft, sondern durch Leistung und Gemeinsinn bestimmt wird: „Da sind wir angekommen.“ Die Geringverdiener, die Arbeitslosen in Ostdeutschland, die allein erziehenden Frauen, die Jugendlichen mit Hauptschulabschluss werden es gerne vernehmen.
Überhaupt ist die Frage nach der sozialen Mitte – man könnte auch sagen: nach der sozialen Ungleichheit – ein unangenehmes Thema. Deshalb wird die neue Mitte lieber als politische Mitte thematisiert, wobei der Unterschied dieser beiden Perspektiven noch nicht einmal aufzufallen scheint. Die SPD ist demnach, wie das auch die CDU für sich reklamiert, eine Partei der Mitte im Sinne einer Politik jenseits der Extreme.
So hat es auch der SPD-Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig skizziert. Politische Mitte sei der „Anspruch, neue Balancen von Eigenverantwortung und sozialer Sicherheit, von Individualismus und Gemeinwohl, von Modernisierung und Gerechtigkeit“ zu schaffen.[2]Und wer kann diese Politik vertreten, wer ist der Adressat dieser neuen Wertebalance? Es ist nicht etwa die Verkäuferin oder der Heizungsmonteur, nein, es sind die „Angestellten oder Selbstständigen mit qualifizierten Bildungsabschlüssen in den Kernbereichen der neuen Ökonomie“, in „verantwortungsvollen Positionen“. Hat nicht bis vor kurzem noch die FDP ihre angestrebte Klientel der „Besserverdienenden“, unter allgemeinem Hohngelächter, ähnlich beschrieben?
Problematisch an dieser neuen Orthodoxie der Mitte in der SPD-Rhetorik ist aber nicht nur das kaum bemäntelte Hinwegsehen über traditionelle Wählerschichten, sondern auch die Vermutung, die neue Mittelklasse könne auf die untere Hälfte der Gesellschaft ausstrahlen, also eine Art Leitkultur für die leider auch noch vorhandenen unteren Schichten bilden und sie so doch noch in die Gesellschaft integrieren.
Worauf sich diese Vermutung stützt, bleibt unklar; die meisten Indizien weisen gegenwärtig in die entgegengesetzte Richtung: Die neubürgerliche „Mitte“, wenn es sie denn gibt, strahlt kaum noch über ihr eigenes Milieu hinaus.
2Wer sich auf die Mitte beruft, sollte das nicht leichtfertig tun. Denn er stellt sich damit in eine Tradition, die immer auch ideologische Funktionen erfüllen sollte und manches Mal politisch missbraucht worden ist. Daran sollte sich gerade die SPD erinnern können. Im 19. Jahrhundert ist die Ideologie der Mitte sehr selten ein Argument der Linken gewesen.[3]Vielmehr adaptierte die konservative Sozialtheorie die Suche nach einer stabil verankerten Mitte, die nicht zuletzt ein Bollwerk gegen die Ausdehnung der Arbeiterklasse sein sollte.
In der Bundesrepublik erlebte die Vision von einer in der Mitte stabilisierten Gesellschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren eine Hochkonjunktur und wurde im Diskurs entsprechend genutzt – gegen die Linke. Die Formel des Soziologen Helmut Schelsky von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ wurde zu einer Art sozialem Gründungsmythos der Bonner Republik.
Damit soll gar nicht bestritten werden, dass die Arbeiterschichten in Westdeutschland ein Niveau der Lebensführung erreichten, das bis dahin eher dem kleinen und mittleren Bürgertum vorbehalten war. Aber im Ganzen bezeichnete die „Mitte“ in der frühen Bundesrepublik doch eher ein Projekt, das in der Kontinuität konservativer Stabilisierungskonzepte stand.
Es scheint so, als habe sich die Spur der „Mitte“, die jetzt wiederentdeckt worden ist, in den 1970er- und 1980er-Jahren ein wenig verloren. Denn einerseits war das die Phase einer Konsumnormalität Westdeutschlands, in der Klassenunterschiede tatsächlich keine große Rolle mehr zu spielen schienen. Die Realeinkommen der Arbeitnehmer wuchsen in großen Schritten. In den meisten OECD-Staaten markierten die 70er-Jahre den Höhepunkt in der Annäherung von „oberen“ und „unteren“ Einkommen: Seitdem wuchsen die Abstände wieder. Andererseits hatte die Rhetorik der „68er“ das soziale Vokabular des Marxismus wiederentdeckt, in dem die Mitte nicht vorgesehen war. Davon war zwar schon in den 80er-Jahren kaum noch die Rede, aber dafür verdrängte die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit und dem, was man als „neue Armut“ zu beschreiben begann, die Plausibilität einer gemütlich in der Mitte ausbalancierten Gesellschaft. Eigentlich war die Rückkehr der „Mitte“ als soziales und politisches Ideal gar nicht so wahrscheinlich, schon gar nicht ihr Eindringen in die politische Linke. Auch die sozialen Folgen der Wiedervereinigung wiesen nicht in diese Richtung. Gibt es die soziale Mitte überhaupt noch, oder wird nur über sie gesprochen?
3Mit dem Appell an die Mitte liegt man nie falsch: Diesen Schluss könnte man aus der Geschichte ziehen. Ob das etwas mit gesellschaftlichen Realitäten zu tun hat, ist schon immer eine ganz andere Frage gewesen. Seit den 80er-Jahren deutet jedenfalls wenig auf die Verbreiterung einer neuen Mittelschicht. Unbestreitbar hat der technologische Wandel der letzten Zeit zur Expansion von Berufsgruppen geführt, die sich einer sozialen Mitte zuordnen lassen. Die relativ gut ausgebildeten, gut bezahlten Angestellten in den IT-Branchen sind die viel zitierten Beispiele dafür.
Doch die Entstehung solcher Berufsgruppen ist ein im wahrsten Sinne des Wortes „viel-schichtiges“ Phänomen, das regelmäßig nicht nur gut verdienende Expertengruppen hervorbringt, sondern auch ein neues Dienstleistungsproletariat. Was um 1900 die Verkäuferinnen in den Warenhäusern waren, sind heute die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den „Call-Centern“. Sie sitzen an einem sauberen Schreibtisch, von neuester Technologie umgeben. Vielleicht glaubt deshalb die SPD, dass solche Beschäftigten in die solide Mittelklasse aufgestiegen sind. Die wenigsten der Betroffenen werden es selber glauben. Denn die Tätigkeit ist gering qualifiziert, die Arbeitsplätze sind unsicher, der Verdienst ist gering.
Dieses Beispiel veranschaulicht, dass Polarisierung, nicht Homogenisierung sozialer Lagen in der ominösen „Mitte“ die Bundesrepublik kennzeichnet. Die Einkommenssituation in Deutschland ist in den letzten zehn bis 15 Jahren in mehrfacher Hinsicht durch eine Schere gekennzeichnet. Dabei sind nicht nur die Einkommen aus selbstständiger Arbeit viel stärker gestiegen als die Einkommen der abhängig Beschäftigten. Darauf beruft man sich in der SPD gerne, weil man dann 90 Prozent der Gesellschaft gegen die Unternehmer, Zahnärzte und Rechtsanwälte auf seiner Seite hat. Doch ist zugleich der Abstand zwischen unteren und „mittleren“ sozialen Lagen vielfach gewachsen. Ein Grund dafür ist die Massenarbeitslosigkeit, ein anderer die Zunahme familiärer Instabilität in der Unterschicht – Stichwort: allein erziehende Mütter. Andererseits nimmt die Kinderlosigkeit besonders in der (akademischen) Mittelschicht deutlich zu, die sich damit auf Kosten der Allgemeinheit einen höheren Wohlstand finanziert. Aber auch fiskalische Steuerungsinstrumente verstärken diese Kluft, etwa die derzeit bestehende Form der Eigenheimförderung, mit der Mittelschichtfamilien massiv subventioniert werden, die sich den Eigentumserwerb meist auch ohne staatliche Unterstützung leisten könnten, und die die anderen auf den Mietwohnungsmarkt verweist. Die Subventionierung der Mittelschicht durch das kostenlose Hochschulstudium, welche eine SPD-Ministerin derzeit verbissen verteidigt, ist ein zweites Beispiel.
Vor einem Jahr hat Rot-Grün stolz den ersten Armuts-und-Reichtums-Bericht vorgelegt, in dem sich all dies nachlesen lässt. Inzwischen scheint der Stolz Scham gewichen zu sein. Über so unangenehme soziale Wirklichkeit spricht man besser nicht. Ja, die „Mitte“ prosperiert – aber auf wessen Kosten?
Nicht nur in materieller Hinsicht, auch in der „weicheren“ Dimension des Lebensstils haben sich gesellschaftliche Spaltungen etabliert, die das Reden von einer saturierten Mitte fast zynisch erscheinen lassen. Manchmal sind es auch ganz alte Differenzen, die, allem schönen Gerede von der IT-Gesellschaft zum Trotz, ihre Alltagsmacht noch nicht eingebüßt haben. Die „Blaumanngrenze“ in der Arbeitskultur gehört unstreitig dazu: Wer muss sich die Hände schmutzig machen, und wer nicht?
Spiegel dieser mehr als nur symbolischen Grenzziehung ist die Differenzierung von Klassenkulturen außerhalb der Arbeitswelt – in Konsum und Freizeit.[4]Man kauft seine Lebensmittel beim Discounter oder in dem italienischen Feinkostladen, man konsumiert die privaten Fernsehsender oder das Kulturprogramm der Öffentlich-Rechtlichen treu. Die Opel-Gesellschaft hat sich von der Audi-Gesellschaft getrennt.
Jeder kann die Zeichensprache dieser Distinktionen lesen und sich mit seinem eigenen Verhalten an sie anpassen. Vorherrschend ist dabei jedenfalls die Zuordnung „nach unten“ oder „nach oben“ und gerade nicht die Konsolidierung eines allgemeinen Lebensstils der Mitte. Nicht zufällig wird in letzter Zeit der Aufstieg einer neuen Klasse beschrieben, die sich durch ihre Lebensführung vom Zentrum der Gesellschaft abzusetzen versucht: Das sind die „Bobos“ oder „Bourgeois Bohemians“ bei David Brooks; das ist die neue „globale Klasse“ bei Ralf Dahrendorf.[5]
Ähnliche Schlüsse lassen sich aus der Debatte über das Bildungssystem nach der „Pisa-Studie“ ziehen: Gymnasium oder nicht Gymnasium, das ist hier die Frage. Im Gesundheitssystem sind diese Tendenzen noch nicht ganz so weit fortgeschritten, aber die Debatte über die „Zweiklassenmedizin“ zeigt, dass es auch hier immer schwieriger wird, eine „Mitte“ der Gesellschaft zu stabilisieren.
4Ein zentrales Element in dem gegenwärtigen SPD-Appell an die „neue“, an die „moderne“ Mitte scheint die Erwartung zu sein, dass diese Mitte eine soziale Leitkultur ausbildet, die wirkungsvoll auf die Unterschichten ausstrahlt und zu ihrer kulturellen Integration in die dynamische Mainstreamgesellschaft beiträgt.
Dieses Konzept kann sich sogar auf historische Vorbilder berufen. Die Lebensführung von Eliten war häufig ein Modell. Ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist der Versuch des Proletariats im 19. und 20. Jahrhundert, dem Bürgertum nachzueifern – von den Bildungsbestrebungen der Arbeiterschaft bis zu ihrer Sehnsucht nach „bürgerlicher“ Nahrung, Kleidung und Wohnung.
Dieses Muster scheint in der Bundesrepublik bis in die 70er-Jahre prägend gewesen zu sein, aber seitdem hat es sich grundlegend gewandelt. Die Unterschichten, die immer weniger mit der alten Industriearbeiterklasse zur Deckung kommen, haben die bürgerlichen Verhaltensleitbilder über Bord geworfen. Warum sollte man sonntags im guten Anzug auf die Straße gehen, wenn es im Jogginganzug bequemer ist?
Man kann dies sogar positiv, als Zugewinn an Demokratisierung, als einen Abbau quasiständischer Unterordnung unter sozial höher Stehende verstehen. Aber dies unterstreicht nur, dass von einer kulturellen Orientierungsfunktion der Mittelschichten inzwischen kaum noch die Rede sein kann.
Man kann, im Gegenteil, eher das Gefühl haben, dass die Anpassungsprozesse heute andersherum verlaufen: nicht mehr „von oben nach unten“, sondern „von unten nach oben“. Denn wie groß sind die Teile der Mittelschichten, von den rot-grünen Sozialpädagogen und Studienräten einmal abgesehen, „denen die Gleichstellung der Geschlechter am Herzen liegt, aber auch die Integration kultureller und religiöser Minderheiten in unserem Lande und die faire Absicherung der sozial Schwachen“? Dieses Loblied aus der Feder von Matthias Machnig muss man wohl als Pfeifen im Walde verstehen angesichts der Debatten über Hedonismus und Egomentalität der neuen Mittelschichten, die der nachwachsenden Generation Werte und Verantwortung zunehmend schwerer vermitteln können.
Welche politischen Konsequenzen man aus solchen Diagnosen zieht, wird umstritten bleiben. Aber wenn die Politik auf der Grundlage realitätsgerechter Analysen gemacht würde, statt sich in Vernebelungsrhetorik zu hüllen, wäre schon viel gewonnen. Anthony Giddens hat kürzlich die „Frage der sozialen Ungleichheit“ wieder aufgeworfen.[6]Gar so weit kann der Weg von Giddens über Blair zu Schröder doch auch 2002 nicht geworden sein?
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