: robin alexander über schicksal Die Stunden der Journalisten
Die Fußball-WM naht, und Lateinamerika ist weit. Vordenker und Schreiber eignen sich das Irrationale an
Wie immer ist die Stunde des Erfolgs die Stunde der Journalisten: Wenn irgendwer irgendwo irgendwas gewinnt, sind wir dabei. Steht ein Sieger fest, finden sich plötzlich Anhänger, Jubelperser, Fans unter denen, die eigentlich nur zum Berichten berufen sind. Das ist bei einem Wahlsieg irgendeiner Koalition nicht anders als bei einem erfolgreichen Börsengang. Oder bei einem Sieg im Fußball.
Dieser Fall hat freilich etwas Besonderes: Geht es um Fußball wird das dünne Mäntelchen der Rationalität, ohne das man sich sonst nicht in den rauen Wind der Öffentlichkeit wagt, in hohem Bogen fortgeschleudert. Entblößt, aber grinsend steht der Autor dann da und zeigt geschwollene Emotion. Und wie beim echten Exhibitionisten wenden sich – amüsiert bis angeekelt – zuerst die Frauen ab.
Es sieht ja auch wirklich seltsam aus, wenn Journalisten, sonst die Abgeklärtheit selbst und Distanz in Person, in Zeiten des Erfolges ihrer Lieblingsmannschaft plötzlich ganz nah und ganz gefühlig werden – und das nicht im Stadion oder zu Haus, sondern auf großen Zeitungsseiten.
Etwa in einer Berliner Regionalzeitung zwei Tage nach dem Pokalsieg des FC Schalke 04 auf Seite 3: „Was also ist ein Schalker, wenn das Schalkersein unabhängig ist von Raum und Zeit, von Herkunft und Alter? Das ist eine Frage, die nur klug aussieht …“ nicht auf den ersten Blick, möchte man unterbrechen, aber schon geht es weiter „ … in Wirklichkeit aber sinnlos ist. So sinnlos wie die nach den Gründen der Liebe oder der Religion. Man weiß es nicht und spürt es doch ganz stark. Oder auch nicht.“
Wo sonst jeder Nebensatz auf seinen Sinngehalt gewogen wird und kein Adjektivchen zu viel Gefühl in einen Text schmuggeln darf, wird es plötzlich metaphysisch. Das Ganze hat etwas von einer Katharsis. Denn irrationale Identifikation ist aus unserer Öffentlichkeit weitgehend verbannt, mit Vaterländerei blamiert man sich, und demonstrative Religiosität ist Wirrköpfen vorbehalten. Das Ventil für kopflose Leidenschaft ist der vergleichbar harmlose Fußball. Und gerade für Journalisten, die wie niemand sonst der Attitüde des ungerührten und über den Dingen stehenden Besserwissers frönen, gilt in Sachen Fußball: Wehe, wenn sie losgelassen.
Darum irrt Eduardo Galeano, wenn er die selbst gestellte Frage: „Worin ähnelt der Fußball Gott?“ beantwortet mit: „In der Ehrfurcht, die ihm viele Gläubige entgegenbringen, und im Misstrauen, mit dem ihm viele Intellektuelle begegnen.“ Vielleicht trifft das auf Südamerika zu, bei uns aber haben sich die Vordenker und Schreiber das berechenbar Begeisterte, das kontrolliert Irre längst angeeignet.
Für den oben zitierten Kollegen könnte man noch entschuldigend ins Feld führen, dass er professionelle Distanz, Gelassenheit und Ruhe für die sympathischen Königsblauen aufgegeben hat. Was aber soll man zum Publizisten Wiglaf Droste sagen, der Herz und Verstand regelmäßig öffentlich für Borussia Dortmund verliert, einem Club für den der späteinsichtige Jörg Heinrich seit Jahren Bollwerkfußball organisiert, der übersetzt „Preußen“ heißt, an der Börse notiert ist, und über den Gerhard Schröder sagt: „Wenn man so will, ist die Borussia ein Modell moderner Sozialdemokratie: Innovation und Gerechtigkeit.“ Im Gegensatz zu weitläufiger Meinung herrscht also von sozialdemokratischer Seite kein Mangel an Programmatik: Niemand kann später sagen, er wusste nicht, was er tat, wenn er im September wieder SPD ankreuzt.
In der Regel hat das mediale Fan-Bekennertum nur in guten Zeiten Konjunktur. Zur Entlastung der Journalistenzunft sei jedoch angeführt: Um nichts besser ist Otto Normalfanatiker, der gewöhnliche Anhänger im Stadion. Das lehrt der Besuch einer beliebigen Fankurve. Auf der Kutte trägt man dort den alten SS-Spruch „Unsere Ehre heißt Treue“, aber der Grad der Identifikation verhält sich proportional zum Spielstand. Aus dem „Wir führen!“ des Eins zu null wird mit dem Eins zu zwei ein „Ihr Gurken!“ Gehen drei Partien hintereinander verloren, rufen die Treusten der Treuen „Scheiß Millionäre!“ oder „Wir sind Schalker – und ihr nicht!“ Wie immer und überall, so auch hier: In der Depression ist man der Wahrheit am nächsten.
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