piwik no script img

Tibet – geheimnisvolle Welt?

Das „Alte Tibet“ – ein einzigartiges Faszinosum aus spirituell-religiösen Geheimnissen und Mysterien? Rosenheim jedenfalls ist im Romantikfieber und preist in einer Ausstellung das alte Tibet und die magischen Kräfte des Dalai Lama

von COLIN GOLDNER

Ein gut fünfzehn Meter hoher „Darchen“ ist gegenwärtig im oberbayerischen Rosenheim zu besichtigen, eine Art Maibaum, wie er in in jedem Klosterhof des „alten Tibet“ aufgerichtet war. Geschmückt mit glücksverheißenden Yak-Schwänzen und tausenden bunter Gebetsfahnen, steht er vor dem Veranstaltungszentrum „Lokschuppen“, in dem derzeit eine der größten Ausstellungen zu Kunst, Kultur und Religion des „alten Tibet“ zu sehen ist, die es je im deutschsprachigen Raum gab. Sie läuft noch bis zum 11. August.

Der Darchen soll, so die Veranstalter, die „vielen guten Wünsche und Gebete der Besucher zu den Göttern tragen“. Im Begleitprogramm finden zahlreiche Vorträge und Seminare statt. Dank einer „einmaligen Fülle von Exponaten und Kultobjekten“, so die Ausstellungsmacher, sei es gelungen, „die dichte, ja mystische Atmosphäre eines tibetischen Tempels in einem originalgetreu gestalteten Tempelraum einzufangen“, in dem „vielfach vergoldete und edelsteinbesetzte Buddhas und Götterskulpturen“ zu bewundern seien. In der Mitte des Raumes findet sich eine riesige „vergoldete Statue des Tschenresig, des ‚Bodhisattva des grenzenlosen Mitgefühls‘, als dessen Reinkarnation der jeweilige Dalai Lama von den Tibetern aufs Höchste verehrt wird“.

In „lebendigen Themenräumen“ werden „weitere wichtige Aspekte des tibetischen Lebens, wie Magie, Astrologie und Orakelwesen“ vorgestellt. Ganz so, als habe es im „alten Tibet“ außerhalb der Klöster und des dort gepflogenen Geister- und Dämonenkults kein Leben, zumindest weiter nichts Berichtens- oder Ausstellenswertes gegeben.

Auf die Idee etwa, eines der elenden Quartiere zu zeigen, in denen die große Masse der Tibeter und Tibeterinnen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein lebte, kommt die Ausstellungsleitung nicht. Ihr geht es darum, dem vermeintlichen Wunsch des Besuchers zuvorzukommen, „einen Blick in die geheimnisvolle Welt des alten Tibet zu erhaschen“. Sprich: die Klischees zu bedienen, die man im Allgemeinen mit Tibet assoziiert.

Das museumspädagogische Programm der Rosenheimer Ausstellung verfährt analog: Mit Schulkindern der 4. Klassen werden „Tsa-Tsas“ gebastelt, Tontäfelchen mit „glücksbringenden“ Symbolen, 5. Klassen dürfen „Sungkhors“ drucken, bunte Papieramulette mit „individuellen Wunschformeln“.

Ausstellungsleiter Schuster haben es vor allem die übernatürlichen Fähigkeiten angetan, deren die Lamas teilhaftig gewesen seien: „Das Schreiten über glühende Kohlen, das Berühren glühenden Eisens, ohne sich zu verbrennen, ja selbst die oft geübte Praxis, den eigenen Körper mit einem Schwert zu durchbohren, ohne die geringste Verletzung davonzutragen“.

Vor allem aber seien die Lamas in der Lage gewesen, magische Dolche über beliebige Entfernungen durch Türen und Mauern zu schleudern, um etwaige Widersacher aus dem Wege zu räumen. Schuster ist auch gleich mit einer Erklärung für derlei „auffälligste und am besten belegte paranormale Fähigkeit“ tibetischer Lamas bei der Hand: Die Dolche, ein paar davon sind in Rosenheim zu besichtigen, würden über ein bestimmtes Ritual mit großen Mengen „psychokinetischer Energie“ aufgeladen, sodass sie „Dutzende Kilometer wie unsichtbare Geschosse“ dahinflögen, „um unweigerlich das ihnen eingegebene Ziel zu erreichen“.

Dabei war Tibet unter der Herrschaft der Lamas keineswegs die „friedvolle und harmonische Gesellschaft“, die der Dalai Lama und seine westliche Fangemeinde gerne beschwören. Das Land war überzogen von einem engmaschigen Netz an Klöstern und monastischen Zwingburgen. Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Polizei und Militär lagen ebenso in den Händen von Mönchsbeamten wie Bildungs- und Gesundheitswesen. Neben und zusammen mit dem allgegenwärtigen Klerus verfügten zudem einige alte Aristokratenfamilien über Macht und Einfluss. Dieser relativ kleinen Schicht, zusammen zwei bis drei Prozent, stand die große Masse der Bevölkerung als „Leibeigene“ beziehungsweise „unfreie Bauern“ gegenüber.

Mit nicht weniger als sechzehn Höllen, eine schlimmer als die andere, bedrohten die Lamas ihre Untergebenen: In einer bis heute gültigen Schrift heißt es, man werde in einer dieser Höllen „wie ein Fisch in riesigen, rot glühenden Eisenkesseln gebraten. Mit einem brennenden, spitzen Pfahl wird man vom Anus her durchstoßen, bis dieser wieder am Scheitel austritt.“

Der Dalai Lama konzidiert neuerdings, das feudale Tibet sei „sicherlich nicht vollkommen“ gewesen. Damit hat sich’s aber auch schon mit Kritik und Selbstkritik. Noch immer beschönigt er die Zustände und nährt damit die romantische Verklärung des „alten Tibet“. Kein Wort der Kritik am Missbrauch kleiner Jungen in der Rekrutierung von Mönchsnachwuchs, kein Wort der Kritik am sexuellen Missbrauch junger Mädchen und Frauen in der Inszenierung tantrisch-buddhistischer Rituale.

Streckenweise ist Gerhardt Schusters Begeisterung über seine Exponate reine Schönfärberei: Wenn er etwa die „vielfältige Schrift- und Buchkultur des alten Tibet“ rühmt und auf die „prachtvoll geschnitzen und vergoldeten Buchdeckel und kostbar illustrierten Handschriften“ seiner Ausstellung verweist, die ein „beredtes Zeugnis ablegen für die große Verehrung, die Tibet allem Geschriebenen und besonders den heiligen Schriften des Buddhismus zu allen Zeiten entgegengebracht wurde“, dann unterschlägt er, dass die Analphabetenquote im „alten Tibet“ bei rund 98 Prozent der Bevölkerung lag.

Auch die Darstellung der „tibetischen Medizin“ als hoch entwickelte Heilkunst, von der der Westen einiges lernen könne, ist in vieler Hinsicht irreführend. Dass im „alten Tibet“ Pillen aus dem Kot hochrangiger Lamas als besonders heilkräftig galten, erfährt man in der Ausstellung nicht.

Geheimnisvolle Welt – Tibet, Rosenheim, Lokschuppen, Rathaustr. 24, Mo- Fr. 9 -18 Uhr, Sa und So 10.30 -18 Uhr. Eintritt: 6, 50 Euro.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen