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Der Durchbruch der Figur

Der künstlerische Aufbruch der 60er-Jahre als Verläufer der gesellschaftlichen Revolte: Hannovers Sprengel Museum bringt Horst Antes’ Werk mit dem seiner Zeitgenossen in einen spannenden Dialog

Die Weltsprache des Informel war in den Sechzigerjahren in eine Krise geraten

von MICHAEL NUNGESSER

In den Sechziger- und Siebzigerjahren gehörte der 1936 in Heppenheim geborene Maler, Grafiker und Bildhauer Horst Antes zu den Stars der Kunstszene. Seine so genannten Kopffüßler bildeten Erfindung und Markenzeichen zugleich. Obwohl es um den heute zwischen Berlin, Wolfartsweier und dem italienischen Sicellino wechselnden Künstler ruhiger geworden ist, lässt sein Frühwerk noch immer Entdeckungen zu und ist kunsthistorisch noch lange nicht ausgeschöpft. Dies zeigt auf beeindruckende Weise das Sprengel Museum Hannover, das selbst einen umfangreichen Werkkomplex des Künstlers sein Eigen nennt. Nach monografischen Ausstellungen 1983 und 1989 folgt nun „Figur Wolkenfänger. Horst Antes und der malerische Aufbruch in den 1960er Jahren“, eine Ausstellung, die die Antes’sche Kunstfigur mit Werken von Zeitgenossen in einen spannenden Dialog bringt.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa und den USA dominierende „Weltsprache“ des Informel war in den Sechzigerjahren in eine Krise geraten. Die Ausstellung nimmt Horst Antes als zentrales Beispiel für eine ebenfalls weltweit einsetzende Gegenreaktion, die der Kunstschriftsteller und Maler Hans Platschek schon 1959 in dem Buch „Neue Figuration. Aus der Werkstatt der heutigen Malerei“ zu fassen versuchte. Es geht um eine assoziativ aus der Abstraktion gewonnene Figuration, die der Beschädigung des Menschenbildes durch Diktatur, Krieg und Technikwahn Rechnung trägt. Neben den Bildern von Antes aus den Jahren 1958 bis 1966 stehen Werke von Künstlern, die ihn beeinflussten oder die parallel zu ähnlichen Lösungen gelangten. Es sind vor allem Maler der Gruppen CoBrA (1948–51) und SPUR (1958–65), Studienkollegen wie Hans Baschang, Heinz Schanz und Walter Stöhrer, richtunggebende Künstler der Nachkriegszeit wie Jean Dubuffet und Willem de Kooning oder Einzelgänger wie David Hockney und Richard Lindner; man vermisst lediglich Francis Bacon und Georg Baselitz.

Obwohl Antes bei HAP Grieshaber in Karlsruhe studiert hatte, einem Bewahrer der Figuration, malte er anfangs abstrakt. Um die Darstellung von Raum bemüht, erschien ihm dieser in der abstrakten Malerei bald als „ein unlebendiger, unmenschlicher, unbewohnbarer Raum“. So begannen sich seit 1958 aus freien gestischen Farbkompositionen biomorphe Formen herauszubilden, die an Einzeller oder andere einfache Lebewesen denken lassen. Allmählich werden menschliche Körperteile und Ansätze einer Figur erkennbar. Dabei geht es Antes vor allem um das Innenleben des Körpers: „Am Anfang malte ich die Figur immer in der frontalen Sicht. Ich habe die Figuren wie ein Stück Haut über den Keilrahmen gespannt und bis außen hin bemalt, bis kein Raum mehr da war.“ Mit der Zeit tauchen chiffrenhaft Augen als Inbegriff des Sehsinns auf, zum Teil übereinander getürmt. Eine oder zwei Profilgestalten bilden sich heraus, die sich um 1963 zur pansexuellen Kunstfigur des roboterhaften „Kopffüßlers“ verdichten, einem „universell gültigen, bildnerischen Zeichen für mögliche Grundbefindlichkeiten des Menschen“, so Kuratorin Annett Reckert im Katalog.

Historisch gesehen knüpft Antes in seinen frühen Bildern an Arp, Baumeister, Klee und Kandinsky an, aber auch der Maler Odilon Redon vom Ende des 19. Jahrhunderts gab ihm mit seiner Augensymbolik wichtige Anregungen. Plastiken Schwarzafrikas standen Pate, etwa beim titelgebenden Gemälde „Figur Wolkenfänger“, das an Figuren mit erhobenen Händen der Tellem und Dogon erinnert, die um Regen bitten. Ebenso wie die Katsinam-Figuren der Hopi-Indianer gehören Renaissancemaler wie Piero della Francesca zu den Urahnen der auch vom Geist der Pop-Art umwehten Kopffüßler. Wie sehr malende Zeitgenossen eine ähnliche Sicht auf den Menschen hatten und damit das Bild dieser Dekade prägten, machen Ausstellung und Katalog durch die direkte Konfrontation von Antes’ Bildern mit denen anderer auf verblüffende Weise deutlich. Antes’ „postabstrakter Humanismus“ bildete eine Grundströmung der Zeit, die mit jeglichem idealisierenden oder heroischen Menschenbild aufräumte und den modernen Menschen in seiner Gefährdetheit vorführte.

Wie sehr die Erfahrung des Leiblichen auch bei scheinbar ganz abstrakten Künstlern erkennbar wird, zeigen Gemälde von Emil Schumacher und Georg Karl Pfahler, und auch der objekthafte „Farbtorso“ von Gotthard Graubner besitzt organische Züge. Vor allem die zwischen Faszination und Abwehr changierende dämonisierende Darstellung der Frau ist weit verbreitet; sie reicht von Constants „Femme terrible“ über „Karin“ von Antonio Saura und „La belle bête“ von Asger Jorn bis zu „Leoparden-Lilly“ von Richard Lindner und findet bei Antes ihre Entsprechung in der Reihe der „Majas“. Das Unterdrückte und Verdrängte findet seinen Weg in die Kunst zurück und taucht hinter Masken und Götzen als groteske bis karikierende Figuration wieder auf. Der sich der Zweckrationalität unterwerfende Mensch schaut in sein wahres Spiegelbild. In den Künsten hat der gesellschaftliche Aufbruch von 1968 ein breites Vorspiel.

Bis 16. Juni, Katalog 25 €

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