: Schule gegen den Hunger
Ohnmächtige Schüler, kaputte Schulen, Lehrer mit Nebenjobs – vom Glanz des argentinischen Bildungswesens ist wenig übrig geblieben. Militärdiktaturen und fundamentalistischer Kapitalismus haben das Land und seine Schulen zugrunde gerichtet
von MARTA PLATÍA
Drei Kinder sind unter der heißen Sonne ohnmächtig auf dem Innenhof ihrer Schule zusammengebrochen. Das meldeten Anfang März die Radiosender in der argentinischen Stadt Córdoba. Es ist morgens um halb elf, Córdobas Stadtteil Sacchi versucht gerade, die Eröffnung des Schuljahres zu feiern.
Während der Bürgermeister ungerührt weiterspricht, eilen Lehrerinnen den Kleinen zu Hilfe. Die Ärztin, die sie untersucht, ist sich sicher: „Hunger. Die Kinder haben vor Hunger das Bewusstsein verloren. Ihre Mägen waren leer und sie haben es nicht ausgehalten, so lange der Hitze ausgeliefert zu sein.“
Mit dem Hunger als Hauptdarsteller begann das argentinische Schuljahr. Es geschah, was man befürchtet hatte nach mehr als einem Jahrzehnt der Rezession, der Arbeitslosigkeit und des fundamentalistischen Kapitalismus. Die unterernährten Körper dreier Kinder von 7, 8 und 9 Jahren entblößten die elende Wirklichkeit ihrer Elternhäuser.
Mitte April hatte der Hunger wieder einen Auftritt. Ein Lehrer in der nördlichen Provinz Tucumán rief um Hilfe, weil Schüler im Alter von 6 und 7 Jahren vor der Klasse umkippten. „Ich führe darüber nicht Buch, aber es passiert alle Tage“, sagte Miguel Galván. „Ein Kind schaut zur Decke oder heftet seinen Blick auf den Boden, es antwortet nicht, und dann fällt es um.“
Was in Córdoba und Tucumán passierte, wiederholt sich im ganzen Land. Die meisten argentinischen Kinder, die öffentliche Schulen besuchen, frühstücken nicht zu Hause. Sie suchen die Lehranstalten wegen ihrer Comedores auf, der Speisesäle, und bringen auch gleich ihre kleinen Geschwisterchen mit. Mehr als 60 Prozent gehen nur noch zum Unterricht wegen der einen gesicherten Mahlzeit am Tag. Ihre Eltern leben bereits unterhalb der Armutsgrenze.
Nach den letzten Zahlen aus dem Nationalen Statistikinstitut Indec gelten inzwischen 18 Millionen der 36 Millionen Argentinier als arm. Die Hälfte der abhängig Beschäftigten, rund 4,25 Millionen Menschen, verdienen weniger als 400 Pesos im Monat. Vor kurzem waren das noch umgerechnet rund 200 Euro. Auch ohne den rapiden Wertverlust durch die Inflation ist das ein unbedeutendes Entgelt, geradezu lächerlich, wenn man in Betracht zieht, dass eine argentinische Familie von vier Personen mehr als 1.100 Pesos zum Leben braucht. Argentinien aber ist ein Land, in dem die Mehrheit der Paare mehr als vier Kinder hat.
Die Kinder, die Jugendlichen und die Alten sind die am ärgsten Entwürdigten der argentinischen Krise. Ihre Ursachen sind vielfältig. Blutige Militärdiktaduren haben das Land über mehr als vier Jahrzehnte in selbstmörderische Kriege wie den um die Islas Malvinas getrieben. Es folgten unfähige und furchtsame Präsidenten wie Raúl Alfonsín und der so hyperliberale wie korrupte Carlos Menem. In diese Reihe gehört auch Fernando De la Rúa, der immer bereit war, die Knie vor der nordamerikanischen Macht zu neigen. Zuletzt drehte sich im schwarzen Dezember vergangenen Jahres das Karussell von sechs Präsidenten in weniger als zehn Tagen.
„Warum und wie konnte ein Land wie Argentinien“, so fragte jüngst der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, „in eine solche Endzeitkrise geraten?“ Vargas Llosa erinnerte daran, dass das Land wegen „seiner Reichtümer aller Art zu den privilegiertesten auf der Welt gehört“. Und er vergaß nicht zu erwähnen, dass ganz Lateinamerika Argentinien in der Vergangenheit um sein Bildungssystem beneidete. Sein Traum wie der tausender junger Südamerikaner war es in den 50er-Jahren, in diesem großen Land zu studieren.
Einst der Traum Südamerikas
Vargas Llosa ist nicht der Einzige, der Sehnsucht nach jenen Zeiten verspürt. Die Kinder und die Enkel der mehr als fünfeinhalb Millionen Einwanderer, die auf der Flucht vor Kriegen zwischen 1857 bis 1924 den Hafen von Buenos Aires erreichten, und der drei Millionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ankamen, wundern sich darüber, was aus dem solidesten Bildungssystem Lateinamerikas geworden ist.
In Córdoba, wo jetzt die Schulkinder vor Hunger ohnmächtig werden, steht die älteste Universität Südamerikas, 1613 von Jesuiten gegründet. Die Universität hat mehr als ein halbes Dutzend Präsidenten ausgebildet und die meisten der Männer, die im Juli 1813 die Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft erklärten. Auch Einwanderer und ärmste Einheimische konnten von Berufen wie Arzt, Rechtsanwalt und Ingenieur träumen, seit es in der Folge der von Córdoba ausgehenden Studentenrevolte von 1918 ein für alle zugängliches und kostenloses Bildungssystem gab.
In den 60er-Jahren und noch zu Beginn der 70er konnte zum Beispiel der Arbeiter einer Autofabrik seine fünf oder sechs Kinder zur Schule schicken – und dabei bescheidenen Reichtum und soziale Sicherheit genießen. Das alles scheint vorbei zu sein in Argentinien, wo „mehr als anderthalb Millionen junger Menschen zwischen 18 und 28 Jahren weder studieren noch arbeiten“. Diese Zahlen enthüllte vor wenigen Wochen der Schriftsteller Tomás Eloy Martínez, einer der angesehensten Intellektuellen des Landes. Die tiefste Verletzung des Bildungssystems ist der Weggang kluger Köpfe aus dem Land. Vertrieben von dem Mangel an Zukunftsaussichten wählen die jungen Argentinier den Weg zurück, den ihre Großeltern und Eltern gekommen sind: Nach Europa – mit dem Pass der Europäischen Union als Ziel.
„Etwa 30.000 bereits ausgebildete Menschen sind dabei, dem Land den Rücken zu kehren, vielleicht für immer“, so Martínez. Eine Zahl, die auch die Konsulate der europäischen Länder bestätigen. Die Menschen verlassen ein Land, wo Verhältnisse wie in der „Dritten Welt“ herrschen. Für die globalen Finanzinstitutionen ist Argentinien aber ein säumiges Industrieland der „Ersten Welt“, das seine Auslandsschulden von 130 Milliarden Dollar zu bedienen hat. Allein die Zinsen, die ihm in den USA ansässige Banken dafür abverlangen, fressen mehr als ein Drittel des Volkseinkommens auf.
In dieser Situation scheinen die Schulen und Universitäten unterzugehen. Der Unterricht wird in Gebäuden abgehalten, die in beklagenswertem Zustand sind, weil sie nicht mehr unterhalten werden. Es fehlen Kreide, Papier und sogar Sitzbänke, um Unterricht zu geben und zu empfangen.
Dabei wird ein öffentliches Bildungssystem zugrunde gerichtet, das nach Brasilien das zweitgröße Lateinamerikas ist. Es besteht aus den beiden Pflichtebenen der Grund- und der weiterführenden Schule. Die Grundstufe Primario reicht vom Eintritt in den Kindergarten mit vier Jahren bis zum elften oder zwölften Lebensjahr, dem Abschluss der 6. Klasse. Die Secundaria dauert weitere 5 oder 6 Jahre, universitäre Karrieren 4 oder 6 Jahre.
Die Krise hat längst die Privatschulen erfasst. Die Einrichtungen senken ihre Tarife, weil die Schüler der bürgerlichen Mittelklasse zu den öffentlichen Schulen abwandern. Sie bieten Stipendien an, um eine Krise zu mildern, die an niemandem vorbeigeht. Die Lehrer und Professoren, die in den goldenen Jahren des argentinischen Bildungssystems viel Prestige genossen, hat die Situation quasi in Bettler verwandelt. Ihr elender Lohn bringt sie dazu, ihre Arbeit praktisch dauernd ruhen zu lassen oder ihren Beruf gleich aufzugeben, um als Straßenverkäufer das Geld für ihre Familien zu verdienen.
Argentinien ist gebrochen, leer, ausgeplündert. Korruption und enthemmter Kapitalismus haben das Land in Trümmern zurückgelassen. Fast alle Argentinier teilen diese Diagnose. Einig sind sich aber auch alle, die Mittelklasse, die Arbeitslosen und die Unterbeschäftigten, die aus dem Produktivsystem herausgefallen sind, dass es ohne Bildung keine Zukunft gibt. Ein Volk ohne Bildung ist zur Sklaverei verdammt, sorgfältig verplant von den seit je Mächtigen. Jenen Kräften, die danach streben, menschliche Wesen in Humanressourcen zu verwandeln.
MARTA PLATÍA, 37, ist argentinische Journalistin. Sie arbeitet für Clarín, eine der wichtigsten Zeitungen Lateinamerikas. Sie ist zurzeit zu Besuch in Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen