Pedalitis berlinensis

Für „Berlin fährt Rad“ erhoffen sich die Veranstalter am Sonntag mehr als 50.000 Teilnehmer auf den Straßen der Hauptstadt. Fahrradfreundliche Politik wird hier erst seit ein paar Jahren gemacht

„Eines Tages größer zu sein als die Love Parade“, erhofft sich der ADFCBis zu einem autofreien Sonntag wie in Italien ist es noch ein langer Weg

von PLUTONIA PLARRE

Einmal auf der Avus in die Pedale treten. Einmal mit dem Fahrrad durch den Autobahntunnel an der Buschkrugallee jagen. Am kommenden Sonntag ist es wieder soweit. Unter dem Motto: „Einmal im Jahr gehört Berlin den Fahrradfahrern“ bläst der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) am 2. Juni zur großen Fahrradsternfahrt.

Die am Tag der Umwelt als Demonstration angemeldete Aktion findet in diesem Jahr zum 26. Mal statt. Die Resonanz ist riesengroß. 2001 beteiligten sich trotz Kälte und Regenwetter 50.000 Radfahrer. „Am Sonntag werden es bestimmt noch viel mehr“, glaubt ADFC-Pressesprecher Benno Koch mit Blick auf die Wettervorhersage. „Eines Tages“, so seine Vision, „werden wir größer sein als die Love Parade.“

Verhältnisse wie im fahrradbegeisterten Holland, eine Pedalitis berlinensis sozusagen, sind einstweilen aber nicht in Sicht. Rund 10 Prozent der 3,4 Millionen Einwohner der Hauptstadt fahren regelmäßig mit dem Velo. Im Vergleich zu vor zehn Jahren ist das immerhin eine beachtliche Steigerung von 6 Prozent.

Der Grund: Unter der großen Koalition hat eine fahrrad-freundliche Politik in den 90er-Jahren de facto nicht stattgefunden. Erst als Peter Strieder (SPD) 1999 das Amt als Verkehrssenator von Vorgänger Jürgen Klemann (CDU) übernommen hatte, kam Bewegung in die Sache. Strieder ernannte den Vorsitzenden des ADFC, Michael Föge, zum ehrenamtlichen Fahhradbeauftragten des Senats. Zur Förderung des Radwegesystems wurde erstmals auch ein eigener Haushaltstitel geschaffen. Seither hält sich dennoch der Vorwurf, es seien nur Brosamen, die für die Radfahrer abfielen: Den suchte Strieders Staatssekretärin Maria Krautzberger am Donnerstag auf einer Pressekonferenz des ADFC einmal wieder zu entkräften: Dem Ausbau von Straßen werde „keine Priorität mehr eingeräumt“.

Um zu erreichen, dass möglichst viele Berliner auf das Fahrrad umsteigen, will Krautzberger nicht nur die Radstrecken, sondern auch die Mitnahmebedingungen für das Gefährt im öffentlichen Verkehrswesen weiter verbessern. Was die S-Bahn angeht, die schon jetzt 15 Millionen Fahrräder befördert, liege Berlin „weltweit an der Spitze“.

Laut Krautzberger will nun aber auch die BVG mitziehen. Pünktlich zum Fahrplanwechsel am 16. Juni werde die U-Bahn ein Pilotprojekt starten, das ein Jahr lang auf allen Strecken rund um die Uhr die Mitnahme von Fährrädern erlaubt. Bislang durften während des Berufsverkehrs keine Räder in der U-Bahn transportiert werden. Auch die Straßenbahn werde künftig zwei Räder pro Zug befördern. Auch bei der Bestellung von neuen Regionalbahnen soll laut Krautzberger darauf geachtet werden, dass diese zur Mitnahme von Rädern geeignet sind.

In puncto autofreie Innenstadt könnte Berlin aber durchaus noch etwas lernen. Allen voran von Italien. In Mailand, Rom und Palermo werden die Autos im Frühjahr und Sommer jeden ersten Sonntag im Monat komplett aus der City verbannt. Keine Abgasfahnen trüben die Luft, wenn sich die Bevölkerung bei Sport und Spiel auf den Straßen tummelt. Von solchen Bildern hat die Abgeordnetenhausfraktion der Grünen geträumt, als sie vor zwei Jahren vom damaligen CDU-SPD-Senat vier autofreie Sonntage in der Berliner Innenstadt forderte.

In Deutschland scheitern solche Initiativen aber kläglich an den Gesetzen und der Bürokratie. Nach dem Straßenverkehrsrecht seien Sperrungen nur erlaubt, wenn Demonstrationen oder kommerzielle Veranstaltungen beantragt worden seien, sagt Krautzberger. „Nur bei der Ölkrise wurde ein Sondergesetz erlassen.“ Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Michael Cramer, will nun wenigstens beim rot-roten Senat versuchen, für den 29. September, wenn in Berlin der Marathonlauf stattfindet, einen autofreien Sonntag herauszuschlagen: „Gute Luft für 20.000 Sportler, das wäre wahre Gastfreundlichkeit“, findet Cramer.

Aber Verkehrsstaatssekretärin Krautzberger winkt schon im Vorfeld ab. „Das kostet ein Wahnsinnsgeld.“ Bei entsprechenden Initiativen in der Vergangenheit sei der Senat „immer auf den Kosten sitzen geblieben“.

Auch der 22. September – der von der Europäischen Kommission vor ein paar Jahren zum autofreien Tag erklärt worden ist, in Deutschland bislang aber kaum Beachtung fand – wird dieses Jahr endgültig zum Flop werden. An dem Tag sind Bundestagswahlen. Da könne man erst recht niemanden auffordern, das Auto stehen zu lassen, meint Krautzberger.

Bleibt also nur der morige Sonntag, um sich mit dem Rad einmal nach Herzenlust mitten auf den Straßen auszutoben. Angesprochen werden sollen mit der Sternfahrt nicht nur die Gewohnheitsradler, sondern auch Familien mit Kindern und Leute, die sich im normalen Verkehr nicht trauen. An 56 Treffpunkten an U- und S-Bahnhöfen geht es los. Auf ingesamt 13 Routen mit einer Gesamtlänge von über 500 Kilometern führt die Tour in familienfreundlichem Tempo zur Siegessäule und zum Brandenburger Tor. Höhepunkte der Raddemo werden die Befahrung der Avus und des neuen Autobahntunnels an der Buschkrugallee sein. Als Abschluss wartet Unter den Linden ein von der Grünen Liga organisierter Umweltmarkt mit über 200 Ständen.

Neben diversen Bezirksbürgermeistern werden sich an der Sternfahrt nach Angaben des ADFC auch zwei grüne Bundesminister beteiligen. Die wegen des Nitrofen-Tierfutterskandals reichlich strapazierte Verbraucherschutzministerin Renate Künast wird erst am Bahnhof Zoo dazustoßen. Auch Umweltminister Jürgen Trittin will mitradeln. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der passionierte Radler in einer Zeitung festgestellt: Was die Radfahrtauglichkeit betreffe, sei Berlin „noch meilenweit“ vom Hauptstadtniveau entfernt. Die Qualität der Straßen seit mitunter „nicht bahn-, sondern knochenbrechend“.

Das Argument zieht am Sonntag für gesäßfreundlich asphaltierten Straßen nicht. Trotzdem hat sich Trittin entschlossen, nur das letzte Stückchen von der Prenzlauer Allee mitzufahren.