die stimme der kritik
: Gürtlers Contragnose: Tod eines Herausgebers

Jede Wissenschaft hat ihre Grenzen, sogar eine gerade eben neu erfundene wie die Contragnostik.

 Nehmen wir uns dafür einmal den aktuellsten Fall deutscher Streitkultur vor, die Walser-Schirrmacher-Kontroverse. Bei allem Streit einen drei einhellige Urteile die Fachwelt: Der Roman „Tod eines Kritikers“ ist schlecht. Walser ist vernichtet. Und: die FAZ hat ihren Rang als Leitwölfin des deutschen Kulturbetriebs mal wieder eindeutig gefestigt. Wobei Letzteres oft nur zähneknirschend hervorgestoßen wird.

 Zum Ersten: Über die Qualität eines Romans lässt sich mit contragnostischen Mitteln nicht urteilen. Es kommt immer wieder vor, dass ein Buch, das alle für schlecht halten, auch wirklich schlecht ist.

 Zum Zweiten: Dass Walser am Ende ist, lässt sich contragnostisch zwar bezweifeln, aber nicht widerlegen, da es hierbei um das zukünftige Verhalten des Individuums Martin Walser geht. Einem Großschriftsteller wird im 76. Lebensjahr unmissverständlich klar gemacht, dass er nichts mehr zu sagen hat. Das wird ihn wahrscheinlich ins innere Exil führen, könnte aber auch zu ein neuerliches Zusammenballen all seiner schöpferischen Kräfte bewirken. Das zukünftige Verhalten eines Einzelnen ist kein Fall für Pro- oder Contragnostik, sondern für Psychologik.

 Beim dritten Urteil hingegen sieht das anders aus. Denn für die Schlagzeilen von heute hat Frank Schirrmacher einen extrem hohen Preis gezahlt: Er hat das Vertrauen von Verlag und Autor missbraucht; er hat gezeigt, dass er alle Regeln und Manieren seiner Zunft zu missachten bereit ist, wenn es dem kurzfristigen Vorteil seines Mediums und seiner Person dient; die FAZ ist damit nicht mehr satisfaktionsfähig: Ein Gentlemen’s Agreement wird mit Frank Schirrmacher nicht mehr abzuschließen sein. In schlechter alter Tyrannenmanier stellt er sich außerhalb des Rechts, um damit das Recht durchzusetzen. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, schrieb der Machtmensch Carl Schmitt. Wobei in diesem Fall zwischen dem Substantiv und dem Adjektiv zu unterscheiden ist: Schirrmacher ist zwar der Souverän des deutschen Feuilletons – souverän ist er nicht.

 Daraus ergibt sich als Contragnose zum „Tod eines Kritikers“: Die FAZ wird durch die Vertrauensbrüche, die sie sich Verlag und Autor gegenüber leistete, nachhaltig beschädigt werden. Was Martin Walser als Demontage Marcel Reich-Ranickis meinte, wurde von Frank Schirrmacher in eine Demontage Martin Walsers umgebogen. Am Ende wird daraus eine Demontage Frank Schirrmachers werden.