: Bedingt schultauglich
Viele Schüler kommen in der Schule nicht zurecht, weil sie so intelligent sind. Eltern wie Lehrer erkennen Hochbegabungen oft nicht – und wissen mit den kleinen Genies nicht umzugehen
von MARINA MAI
„Ich spiele gern mit Puppen“, hieß der Satz, den der damalige Zweitklässler Sebastian in sein Schulheft schreiben sollte und nicht wollte. „Mein Sohn lag drei Stunden lang unter dem Küchentisch und weigerte sich standhaft, die Hausaufgaben zu machen“, erzählt Sebastians Mutter, Beate Schröder (Name geändert). Der Vorfall liegt drei Jahre zurück. Doch aus ihrer Stimme klingt noch heute die Verzweiflung. Sebastian konnte Puppen nicht leiden.
Sebastians Mutter sorgte sich zu Recht um die schulische Entwicklung ihres Sohnes. Der heutige Schüler einer fünften Klasse in Berlin wurde als nur bedingt schultauglich eingeschult. In der Vorschule konnte er keine Reihe von Einsen hintereinander schreiben, ohne dass er ein Strichmännchen dazwischenmogelte. Auch sein Sozialverhalten galt als problematisch: Sebastian fand keine Freunde, er wollte immer der King sein. Dabei war Sebatstians frühkindliche Entwicklung doch so hoffnungsvoll verlaufen. Eher als Gleichaltrige hatte er laufen gelernt. Mit eineinhalb Jahren konnte Sebastian vollständige Sätze sprechen.
Wie aus heiterem Himmel traf Beate Schröder dann die Diagnose einer schulpsychologischen Untersuchung, die sie eher zufällig wahrgenommen hatten: Sebastian war hoch begabt. Er hat einen Intelligenzquotienten über 130, den nur 2 Prozent aller Kinder erreichen. Vor allem in Mathe waren die Tests sehr gut – jenem Fach, in dem er nur eine Drei im Zeugnis hat. Den Punkt für das richtige Ergebnis bekommt Sebastian fast immer. Doch die zwei Punkte für den Lösungsweg fehlen dem eigenwilligen Jungen, der so etwas Simples nicht aufschreiben mag.
Die Verwaltungsangestellte Schröder und ihr Mann stehen der Sozialdemokratie nahe. Hoch begabt, das klang für sie elitär. „Wir wollten kein hoch begabtes, sondern ein ganz normales Kind.“ Mit Hilfe der „Deutschen Gesellschaft für das hoch begabte Kind“ lernten die Eltern, ihren Sohn so zu nehmen wie er ist. Sebastian will kreativ sein, auf jede Einengung reagiert er mit Trotz und Leistungsverweigerung. In dem Verein lernte der Sohn Kinder kennen, die genauso gern wie er im Internet surfen oder sich für das Sonnensystem interessieren. Hier wird er nicht belächelt oder ausgegrenzt.
Hoch begabte Kinder sind oft bereits im Alter von einem bis zwei Jahren ihren Altersgenossen voraus. Da sind viele Eltern noch stolz. Fragt ein Fünfjähriger aber erst, wohin die Pfütze vor dem Haus verschwunden ist, ohne Allgemeinplätze zu akzeptieren, dann können Eltern schnell verzweifeln. Schlimmer wird es, wenn der Filius plötzlich ganz ernsthaft wissen will, wie sich ein Toter so anfühlt.
Von ihrem sozialen Umfeld, oft sogar von den Eltern, werden hoch Begabte gern als Spinner abgestempelt. Insbesondere Jungen werden von gleichaltrigen Kindern nicht akzeptiert. Um Aufmerksamkeit zu bekommen, flüchten sie sich später häufig in die Rolle des Klassenkaspers.
Es ist ein Irrglaube, hoch begabte Kinder müssten die besten Schüler sein. 15 Prozent gehören bereits bis zur 7. Klasse zu den Leistungsschwachen. Weil sie spielend lernen, haben sie keine geistigen Techniken entwickelt, die auch sie in höheren Klassen brauchen.
Karrieren wie die des Kaufhauserpressers Dagobert oder von Hermann Hesses Helden Hans Griebenrath aus dem Roman „Unterm Rad“ werden dann angelegt. Hesses Lehrerporträt von vor rund 100 Jahren stimmt häufig noch heute: „Seine (des Lehrers) Pflicht und sein ihm vom Staat überantworteter Beruf ist es, in dem jungen Knaben die rohen Kräfte und Begierden der Natur zu bändigen und auszurotten und an ihrer Stelle stille, mäßige und staatlich anerkannte Ideale zu pflanzen.“ Insbesondere die Grundschulzeit bedeutet für viele hoch begabte Kinder eine Leidenszeit. Sebastian etwa musste die Schule wechseln, bis er eine Lehrerin fand, die binnendifferenzierten Unterricht anbot. Das heißt, die ihm Extraaufgaben stellte, statt ihn das ermüdend Immergleiche repetieren zu lassen.
Hoch begabte Kinder brauchen Aufgaben, die sie fordern. So lautet das Credo des international anerkannten Spezialisten für Hochbegabung, Franz J. Mönks aus dem niederländischen Nijmegen. „Begabungen sind lediglich Möglichkeiten zur Leistung, nicht schon die Leistung selbst“, so der Experte. „Will ein Fünfjähriger lesen lernen, wehren Eltern und Erzieher oft ab: Wozu soll das Kind jetzt schon lesen können? Er soll lieber an der frischen Luft spielen, heißt es da.“ Ein falscher pädagogischer Ansatz, der oft einen jahrelangen Leidensweg, möglicherweise Lebensuntüchtigkeit nach sich zieht. „Die Förderung sollte dort ansetzen, wo die Begierde eines Kindes liegt.“
Vorzeitiges Einschulen ist oft der richtige Weg. Oder auch das Überspringen einer Klasse. Beides setzt das Einverständnis von Schule und Klassenlehrer voraus. Insbesondere in den Grundschulen ist das Springen eine sinnvolle Maßnahme gegen die Langeweile. Doch die meisten Grundschulen lassen sich darauf nicht ein. „Man kann auch nicht einfach ein hoch begabtes Kind springen lassen und es sich dann selbst überlassen“, meint Maria Brandenstein von der Deutschen Gesellschaft für das hoch begabte Kind. Das Springen muss in ein pädagogisches Konzept eingebunden sein, eine Probezeit einschließen. Oft sei es auch notwendig, bei den dann älteren Schülern und ihren Eltern um Verständnis für den jüngeren Neuzugang zu werben, damit er nicht erneut ausgegrenzt wird. Hat ein Kind gute soziale Kontakte unter Altersgleichen, dann kann es unter Umständen die Langeweile besser ertragen als mit Älteren zu lernen.
Um nicht aufzufallen, unterdrücken hoch begabte Kinder oft ihre Leistungen, hat Mönks beobachtet. „Das wirkt auf Dauer persönlichkeitszerstörend.“ Das Zentrum für Begabungsforschung in Nijmegen erstellt nach ausführlichen Tests individuelle Lernpläne – die allerdings für deutsche Schulen nicht bindend sind. Nicht Eliteschulen heißt das Rezept, sondern individuelle Förderung in einer reformorientierten Schule. Was in Deutschland oft daran scheitert, dass Lehrer mit dem Thema Hochbegabung nie konfrontiert wurden.
In den nächsten Tagen wird Sebastian versuchen, von der 5. in die 6. Klasse zu springen. „Mit der Idee kam seine Lehrerin von einer Weiterbildung zum Thema Hochbegabung“, erzählt seine Mutter. Bisher kamen solche Sonderwege für ihn nicht in Frage wegen seiner nur mittelmäßigen Schulleistungen. „Sebastian ist Feuer und Flamme von der Idee und drängt mich jetzt, mit ihm Englisch zu lernen, damit er in der 6. Klasse klarkommt.“ Zum ersten Mal bietet die Schule Sebastian eine Herausforderung, für die sich Mühe lohnt.
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