: Symbol des Leidens und der Macht
aus Lidice KATRIN BOCK
Am Abend des 9. Juni 1942 kamen die Mörder. Getrampel von Dutzenden Stiefelpaaren und deutsche Befehle hallten durch die Nacht. Gestapo und SS begannen mit der Vernichtung des böhmischen Dorfes Lidice – als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich. 173 Männer wurden an Ort und Stelle erschossen, 199 Frauen und 105 Kinder in Konzentrationslager verschleppt.
Bis zum nächsten Tag dauerte das Gemetzel an. Systematisch vernichteten die Nazis auch die letzte Spur der kleinen Ortschaft und verbreiteten anschließend die Nachricht ihrer Gräueltat in alle Welt. „Sollten spätere Generationen fragen, warum wir in diesem Krieg gekämpft haben, werden wir ihnen von Lidice erzählen“, sagte damals der für die Kriegsmarine zuständige US-Vizeminister Frank Knox. Und wirklich: Lidice wurde zum Symbol des Kampfes für die Freiheit, gegen die Faschisten – und zum Symbol weltweiter Solidarität: In Großbritannien und den USA entstand die Bewegung „Lidice Shall Live“, die Geld für einen Wiederaufbau nach dem Krieg sammelte.
Leben im Gedenken
Wie Hunderte andere ehemalige Soldaten der aufgelösten tschechoslowakischen Armee hatten Ende 1939 auch Josef Horak und Josef Stribrny ihre von den Deutschen besetzte Heimat verlassen, um in der britischen Royal Airforce für die Befreiung der Tschechoslowakei zu kämpfen. Dort erfuhren sie von der Vernichtung ihres Heimatdorfes Lidice. Kein Zufall, wie sich herausstellte: Der Gestapo war zugetragen worden, dass man Horak nach dem Attentat in der Nähe Lidices gesehen habe. Da Heydrich von in Großbritannien ausgebildeten tschechischen Fallschirmspringern ermordet worden war, schlussfolgerte man, dass eben dieser Horak aus Lidice das Attentat verübt haben könnte (was nicht der Fall war). So beschlossen die Besatzer, an Lidice ihr grausames Exempel zu statuieren.
Alle Familienangehörigen von Horak und Stribrny wurden eine Woche nach dem Attentat verhaftet und als angebliche Mitwisser hingerichtet – bis auf Horaks damals hochschwangere Schwester Anna. Sie überlebte den 10. Juni in Lidice, brachte ihr erstes Kind kurz darauf in einer Gestapo-Klinik in Prag allein zur Welt: „Ich wollte nicht, dass als Erster ein SS-Mann mein Kind sieht. Da hab ich alle meine Kraft zusammengenommen und das Kind allein geboren.“ Ihre Tochter wurde Anna Horakova weggenommen, sie sah sie nie wieder. Dieser Tage würde sie ihren 60. Geburtstag feiern.
Im Juni 1945, am dritten Jahrestag der Zerstörung Lidices, nahmen über 150.000 Menschen an einer Gedenkfeier an der Stelle des zerstörten Dorfes teil, darunter 145 Lidicer Frauen, die 17 der einst 105 Lidicer Kinder – und die einzigen zwei überlebenden Männer: Josef Horak und Josef Stribrny. „Es war merkwürdig, die beiden zwischen all den Frauen zu sehen, die so alleine dasaßen, die keine Kinder, keine Männer, keine Väter mehr hatten“, erinnert sich Winn Horak-Plocka, die Witwe von Josef Horak.
An diesem Tag im Juni wurde der Wiederaufbau Lidices offiziell verkündet. Zwischen 1947 und 1959 entstand das neue Lidice – ein kommunistisches Musterdorf ohne Kirche und Kneipe, mit je einem Haus für jede Frau und jede Waise, nicht aber für die zwei Männer: Geldmangel, hieß es offiziell. Die inoffizielle Begründung war eine andere. In den Augen der Kommunisten galten Horak und Stribrny als Verräter und Spione des Westens, da sie während des Zweiten Weltkriegs auf dessen Seite gekämpft hatten.
Horak emigrierte 1948 mit Frau und Kindern nach Großbritannien. Einige Monate später kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Seine Schwester Anna durfte weder zu seiner Beerdigung noch Kontakt mit ihren Verwandten halten. „Während des Krieges haben die Deutschen ihr alles genommen“, bedauert Josef Horak jr., der in England lebende Sohn Horaks. „Das einzige, was sie noch hatte, ihren Bruder, nahmen ihr die Kommunisten.“
Der andere Lidicer Soldat, Josef Stribrny, kam nach der Machtergreifung der Kommunisten 1948 einige Monate als angeblicher westlicher Spion ins Gefängnis. Danach war er Arbeiter in einer Fabrik, wurde Alkoholiker und starb 1976 vergessen in Südböhmen.
Last der Vergangenheit
Das neue Lidice wurde unter den Kommunisten gebaut – freiwillige Arbeiterbrigaden kamen, Lidice wurde zudem sozialistisches Jugendprojekt. An den Jahrestagen fanden ideologisierte Massenveranstaltungen statt. Schulklassen wurden nach Lidice verfrachtet, die Busse sowjetischer Touristen hatten hier einen Pflichtstopp. Bis zu 400.000 Besucher jährlich zählte die Gedenkstätte in den 70er- und 80er-Jahren. Lidice wurde für die meisten Tschechen ein Symbol kommunistischer Propaganda. Die Lidicer Frauen wurden zu kommunistischen Vorzeigefrauen degradiert, die bei keiner staatlichen Feierlichkeit fehlen durften.
Der Regierung in Prag wurde die bestehende Gedenkstätte angesichts der Massenwallfahrten zu klein. In den 80er-Jahren beschloss man den Bau eines monumentalen Museums: Hier sollten nicht nur der Kampf der Kommunisten gegen den Faschismus dokumentiert werden, sondern auch die „aktuellen Gräueltaten des Kapitalismus und Neokolonialismus“. Erst die Samtene Revolution von 1989 bewirkte einen Baustopp.
Lidice landete nach 1989 hart auf dem Boden der neuen Realität. Die staatlichen Zuschüsse wurden ebenso gestrichen wie die Klassenfahrten. Die Besucherzahl sank rapide. Für die Instandhaltung des 70 Hektar großen Gedenkareals musste das 500-Einwohner-Dorf, in dem heute noch über 20 Lidicer Frauen und 12 der damaligen Kinder leben, fortan alleine aufkommen. Die sozialistischen Brigaden waren Vergangenheit, ebenso die Subventionen und Privilegien. Weder Regierung, Kulturministerium noch Landkreis wollten sich die Finger an diesem Symbol kommunistischer Macht schmutzig machen.
„Die größte Sünde der Kommunisten ist, dass aus dem Symbol des Leidens ein Symbol der Macht geworden ist. All diese Jahrestage mit Pflichtteilnahme für Kinder und Werktätige haben zu einer furchtbaren Degradierung der Kriegsleiden geführt“, erklärte Pavel Müller, Bürgermeister von Lidice nach 1989. Im Jahr 1992 erhielt die Gemeinde den Torso des geplanten Megamuseums als Danaergeschenk, doch selbst für den Abriss reichte das Geld nicht. Das von allen vergessene Dorf stand alleine da mit seinen überflüssigen Geschenken aus vergangenen Zeiten.
Eine Zukunft für Lidice
Erst angesichts des näher rückenden 60. Jahrestages der Zerstörung Lidices am kommenden Montag wachte die Regierung auf. Plötzlich war Geld für den Abriss der gigantischen Bauruine da, die jahrelang die Gedenkstätte dominiert hatte. Das Kulturministerium erwarb das ebenso jahrelang leerstehende Kulturhaus und will es noch in diesem Jahr renovieren. Hier soll mit 30-jähriger Verspätung die Sammlung „Hommage à Lidice“ ihren Platz finden, die der Berliner Galerist Rene Brock einem „zukünftigen Museum in Lidice“ 1967 geschenkt hatte. 30 Jahre lang waren die Werke von Beuys, Immendorf und Ücker in einem Depot verschwunden.
Lidice ist zwölf Jahre nach der Samtenen Revolution noch immer auf der Suche nach seiner Identität. Das einstige Symbol für Freiheitskampf und Solidarität verkam zu einem Sinnbild kommunistischer Geschichtsklitterung. Zu Unrecht, denn wer einmal dort war, vergisst den Anblick des leeren Tales nicht, in dem lediglich an der Stelle der Schule, der Kirche und des Hofes der Familie Horak, in dem die Männer erschossen wurden, Mahnmale stehen.
Am Montag, dem 60. Jahrestag der Zerstörung Lidices, wird Josef Horak jr. seine über 80-jährige Tante Anna in Lidice besuchen. Das Dorf hat Josef Horak und Josef Stribrny inzwischen den ihnen gebührenden Respekt gezollt: 1992 wurde die Straße der Roten Armee in Stribrny-Straße umbenannt, die nach dem ersten kommunistischen Innenminister benannte Straße trägt nun den Namen Josef Horaks.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen