: berliner szenen Nackt im Treppenhaus
In Morpheus Armen
Ich lag zwei Stunden im Bett, als meine Blase drückte. Der Druck holte mich sanft aus dem Schlaf. Ich erhob mich, ohne dass ich meine Augen allzu weit öffnete. Schlaftaumelnd ging ich zum WC und befreite mich, ging zurück, öffnete die Schlafzimmertür, schloss sie wieder und staunte. Nichts war wie vorher. Ich öffnete die Augen nun ganz. Ich stand im Treppenhaus. Ein Irrtum. Macht nichts, dachte ich, und suchte den Wohnungsschlüssel aus der Tasche zu holen – doch, wie das Sprichwort sagt: Einem nackten Mann greift man nicht in die Tasche.
Schlagartig war ich wach. Ich klingelte. Es rührte sich nichts. Ich klingelte und klopfte. Weiterhin Stille. Meine Mitbewohnerin schlief tief. Allzu tief. Daher blieb ich, wie ich war: nackt im Wind, im lauen Lüftchen eines Treppenhauses. Ich kriegte Panik. Ich klingelte, rüttelte und warf mich gegen die Tür, die allerdings nach einem Einbruch verstärkt war. Ich trommelte mit den Fäusten an die Stelle der Wand, hinter welcher ich das Schlafzimmer meiner Mitbewohnerin vermutete. Ich machte Lärm. Niemand erwachte, nicht einmal die Nachbarn öffneten die Tür. Es war kurz nach 5 Uhr. Nach einer guten halben Stunde setzte ich mich auf die Treppe. Doch Morpheus war stärker als die Verzweiflung. Ich schlief ein. Den Nachbarn bot ich mich dar, wie ich geschaffen war – ein Angebot, das Gott sei Dank niemand wahrnahm. Dann erwachte ich erneut, trommelte wie ein Irrer gegen die Wand und mir wurde aufgetan. Jetzt war es 7.30 Uhr. Ich hatte über eine Stunde meine Blöße der Welt hingehalten. Sie hatte mich verschmäht, Gott sei Dank. Bis auf eine Ausnahme: Sobald sie mich beim Frühstückstisch nur ansah, bekam meine Mitbewohnerin einen Lachkrampf.
JÖRG SUNDERMEIER
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